Tango Vitale
kann nicht richtig atmen, nicht schlucken, wird dauernd blau. Ein Vierteljahr bleibt sie auf der Intensivstation. Operationen, Nasensonde, überall Schläuche. Im Leben von Anna ist nichts mehr, wie es mal war. Sie gibt ihren Beruf auf, lebt von Ersparnissen. Jeden Tag sitzt sie am Bettchen ihres Kindes und hofft nur noch, dass es irgendwie überlebt. Schließlich darf sie Lena mit nach Hause nehmen. Dort wird der Stress durch die Betreuung rund um die Uhr noch größer. Ihre Ehe gerät darüber in eine Krise, Anna leidet unter Burnout und muss sich sechs Wochen in einer psychiatrischen Klinik behandeln lassen. Nachdem sie sich lange dagegen gewehrt haben, beschließen Anna und ihr Mann, Lena während der Woche in ein Heim zu geben. Seitdem geht es ihr viel besser. Sie lernt gehen und greifen – ein Wunder, denn die Ärzte hielten das für unmöglich. Inzwischen ist Lena sieben Jahre alt, sie besucht eine Schule und kann vielleicht eines Tages Buchstaben schreiben.
Anna ist trotz der Einschränkungen überaus glücklich mit ihrem Kind: »Unsere behinderten Kinder sind, und ich sage das mit zitternder Stimme, wie Zombies – und sie sind doch eine Bereicherung.« Ihr ist durchaus bekannt, dass manche, wie der Biochemiker und Nobelpreisträger James Watson, meinen, es sei unverantwortlich, die Geburt eines unheilbar kranken Kindes zuzulassen, das verursache nur unnötiges Leid. Anna widerspricht: »Er will das Schicksal abschaffen, das ist anmaßend. Zum Leben gehört Leid. Lebenswertes Leben, unwertes Leben – das ist ein gefährliches Terrain. Lenchen, mein behindertes Kind, ist der froheste Mensch, den ich kenne. Sie ist unglaublich süß. |107| Heute würde ich mich keiner pränatalen Diagnostik mehr unterwerfen.« 28
Betroffene wie Boris Grundl oder Anna King zeigen: Nach einer persönlichen Katastrophe brauchen wir Zeit, um die damit verbundenen Gefühle zu verarbeiten. Aber irgendwann sollten wir aufhören, mit unserem Schicksal zu hadern. Denn dann ist der entscheidende Schritt möglich, mit dem wir die Situation zum Positiven verändern können – oder uns selbst: Wir entdecken einen Sinn in unserem Leiden. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat gewiss Recht, wenn er sagt: »Wer ein Warum im Leben kennt, erträgt fast jedes Wie.«
Zweiter Schritt: Einen Sinn darin sehen
Weltkongress für Psychotherapie im Juli 1994 in Hamburg. Der kleine, weißhaarige Herr, der zum Rednerpult geführt wird, ist schon fast 90. Die Veranstalter bitten darum, ihn nicht mit Blitzlicht zu fotografieren, seine Augen würden darunter leiden. Aber als er zu sprechen beginnt, ist von Alter oder körperlicher Schwäche nichts mehr zu spüren. In der bis auf den letzten Platz gefüllten Kongresshalle wird es mucksmäuschenstill. Ich bin, wie wohl alle anderen auch, von der Persönlichkeit des Redners tief beeindruckt. Vorne steht Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie, emeritierter Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, Psychotherapeut, einer der größten Fachleute auf seinem Gebiet. Die von ihm begründete Therapiemethode der Existenzanalyse, auch Logotherapie genannt, beruht auf der Annahme, dass der Mensch existenziell auf Sinn ausgerichtet ist. Keinen Sinn im Leben zu sehen kann zu psychischen Krankheiten führen, ebenso wie ein wiedergefundener Sinn heilen kann. Auf dieser Erkenntnis hat Frankl nicht nur eine wirksame Therapiemethode entwickelt, er ist selbst ein wahrhaftiger Zeuge dafür, dass wir sogar |108| schwerste Schicksalsschläge überwinden können, wenn es uns gelingt, einen Sinn darin zu entdecken.
Viktor Frankl wird 1905 als Sohn eines jüdischen Beamten in Wien geboren. Nach dem Abitur studiert er Medizin mit dem Schwerpunkt auf Depressionen und Suizid. Er hat Kontakt zu Sigmund Freud und Alfred Adler, von 1933 bis 1937 ist er Oberarzt im Psychiatrischen Krankenhaus in Wien und betreut dort selbstmordgefährdete Frauen. Nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich wird ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft untersagt, arische Patienten zu behandeln. Er übernimmt die Leitung der neurologischen Abteilung des Rothschild-Spitals, des einzigen Krankenhauses, in dem in Wien noch jüdische Patienten behandelt werden. Wenig später werden er, seine Frau und seine Eltern ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Sein Vater stirbt dort ein Jahr später, seine Mutter wird in der Gaskammer von Auschwitz ermordet, seine Frau stirbt im KZ Bergen-Belsen. Frankl selbst wird von
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