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Tango Vitale

Tango Vitale

Titel: Tango Vitale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Wlodarek
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Theresienstadt nach Auschwitz gebracht, dann in ein Außenlager des KZ Dachau transportiert. 1945 wird er dort von der US-Armee befreit. Seine furchtbaren Erfahrungen verarbeitet er danach in dem Buch
Trotzdem Ja zum Leben sagen
. Darin beschreibt er, wie sich ihm selbst in dieser extremen, hoffnungslosen Situation ein Sinn offenbarte. Dieser Sinn lässt sich ganz gewiss niemals in der Ermordung unschuldiger Menschen finden, danach zu fragen würde in die Verzweiflung führen. Er kann sich aber dem Betroffenen individuell zeigen: »Sofern nun das konkrete Schicksal dem Menschen ein Leid auferlegt, wird er auch in diesem Leid eine Aufgabe, und ebenfalls eine ganz einmalige Aufgabe sehen müssen.« Im Konzentrationslager findet Frankl den Sinn für sich im Bewältigen der täglichen grausamen Anforderungen: im Bewahren der Würde und der Menschlichkeit. Im seelischen Aufrichten verzweifelter Mithäftlinge. In der Erkenntnis, dass die Liebe zu seiner Frau auch über Trennung und Tod hinaus dauert. Und in dem Vorsatz, dass, wenn er diesen Schrecken überlebt, er als Zeuge davon berichten will.
     
    |109| In seinem Vortrag auf dem Kongress weist Frankl sein Publikum noch einmal mit Nachdruck darauf hin, dass wir uns in Schmerz und Leid auf die Suche nach dem Sinn machen müssen, wenn wir innerlich wachsen wollen. Er betont aber auch: »Sinn muss gefunden werden, kann nicht erzeugt werden.« Niemand kann uns den Sinn unseres Schicksalsschlages verordnen, es ist notwendig, dass wir ihn selbst entdecken.
    Was ist der Sinn?
    Ich war 13 Jahre alt, als meine Schwester Silke geboren wurde. Als sie das erste Mal die Augen öffnete, fiel uns auf, dass sie mandelförmig waren und leicht schräg standen. Ich erinnere mich noch, dass ich das besonders hübsch fand. Was wir nicht ahnten und worüber uns auch kein Arzt aufklärte: Diese Augenform ist ein Hinweis auf das Down-Syndrom. Silke war mongoloid. Ende der 50er Jahren war allgemein noch kaum etwas über Chromosomenveränderung und ihre Folgen bekannt. Solche Kinder sah man auch nicht auf der Straße. Und so wunderten wir uns nur, warum Silke sich so langsam entwickelte. Wir schoben es auf ihre körperlichen Behinderungen. Sie litt an einer Klumpfußstellung, ihre Füße waren nach innen gedreht, sodass sie später kaum stehen oder laufen konnte. Außerdem hatte sie einen Herzfehler, der häufig zu nächtlichen Anfällen führte, in denen sie nach Luft rang.
    Erst ein Vierteljahr später erfuhren wir die Wahrheit. Mein Vater hatte Medikamente beim Kinderarzt abgeholt. Als er nach Hause kam, konnte er vor Tränen kaum sprechen. Ich hatte meinen Vater nie vorher weinen gesehen. Der Arzt hatte ihm eröffnet, dass Silke unheilbar behindert war. »Trisomie 21« hieß das in der Fachsprache. Wir sahen im medizinischen Lexikon nach, was das genau bedeutete. Ein Schicksalsschlag, der uns in seiner Hoffnungslosigkeit auf Heilung verzweifelt |110| machte. Nach dem Sinn wagte keiner von uns zu fragen, wohl deshalb nicht, weil für eine Pastorenfamilie alles in Gottes Hand liegt – und dessen Wege sind ja für uns Menschen oft unverständlich.
    Doch allmählich entfaltete sich der Sinn ganz von selbst: Die Predigten meines Vaters und seine seelsorgerliche Tätigkeit bekamen deutlich mehr Tiefe und berührten die Zuhörer anders als vorher. Wer Leid am eigenen Leibe erlebt hat, kann wirklich mitfühlen und trösten, weil er weiß, wovon er spricht. Meine Mutter engagierte sich intensiv in dem Verein »Lebenshilfe«, der behinderte Kinder betreut. Ich fing an, mich für Psychologie zu interessieren, und las alles, was ich in der Bücherei dazu kriegen konnte, in der Hoffnung, meiner kleinen Schwester doch noch irgendwie helfen zu können. Das war zwar ein vergeblicher Wunsch, brachte mich aber zu dem Fach, das später mein Arbeitsbereich werden sollte. Und vor allem: Wir liebten das Kind, vielleicht noch mehr, als wenn es gesund gewesen wäre. Silke starb mit sechs Jahren an einem Herzanfall. Wenn wir später über die Zeit mit ihr sprachen, dann romantisierten wir sie keineswegs. Es hatte uns alle viel Kraft gekostet und mich meine unbeschwerte Jugend. Es war auch nicht einfach, mit dem Schmerz über ihren Tod fertig zu werden. Doch gleichzeitig waren wir dankbar, dass Silke durch ihr Dasein jedem von uns etwas Wertvolles für die Entwicklung seiner Persönlichkeit und seine Aufgabe im Leben geschenkt hat.
     
    Der individuelle Sinn braucht Zeit, um sich zu entfalten. Wenn wir ihn für uns

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