Tango Vitale
entwickeln, die ihnen helfen, das Leben wieder als lebenswert zu empfinden. Tapferes Annehmen wird uns allerdings nicht in die Wiege gelegt, sondern mit vielen Tränen erworben. Der Weg führt durch einen dunklen Tunnel |104| von Verzweiflung, Panik, Ohnmacht und Zorn. Wir können dankbar sein, wenn es uns schließlich gelingt, in das einzuwilligen, was uns das Schicksal zugedacht hat. Das bedeutet nicht, dass wir verdrängen, was unser Leben vor dem einschneidenden Erlebnis ausgemacht hat. Wir bewahren es weiterhin als kostbaren Schatz in unserer Erinnerung, aber wir hören auf, ihm verzweifelt nachzutrauern.
Erster Schritt: Annehmen, was ist
»Nehmen Sie die neue Situation an – voll und ganz. Das ist der erste Schritt zur Bewältigung!« Das rät kein Psychologe, sondern ein Mann im Rollstuhl, der aus eigener Erfahrung weiß, wovon er spricht.
Boris Grundl ist Mitte 20, Student, aktiver Sportler und erfolgsverwöhnter Sunnyboy. Er kostet das Leben voll aus, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick. Auf einer Reise nach Mexiko macht er gemeinsam mit anderen Touristen einen Ausflug zu einer paradiesischen Lagune mit Wasserfall. Boris springt mehrmals ins Wasser, dann packt ihn der Ehrgeiz. Den letzten Sprung wagt er von ganz oben, wo der Wasserfall über die Felsen in den Abgrund schießt. Beim Aufprall im Wasser bricht er sich die Wirbelsäule. Es folgen eine Notoperation in Mexiko, ein Höllentrip zurück nach Deutschland, monatelanger Aufenthalt im Krankenhaus. Boris ist zu 90 Prozent gelähmt und hadert zunächst heftig mit seinem Schicksal: »Je mehr ich mir meiner Lage bewusst wurde, desto stärker lehnte ich sie ab. Ich lehnte mich ab. Ich sah nur das Demütigende an meiner Situation und fühlte mich nutzloser als eine Zimmerpflanze … Ich sah nur den Verlust, und meine Zukunft bestand für mich aus meiner Vergangenheit minus all jener Dinge, die ich nicht mehr tun konnte.« 26
Nach und nach erkennt Boris Grundl, dass er so nur verlieren kann. Er zwingt sich dazu umzudenken und beginnt, sich über kleine Fortschritte, |105| wie etwa die Beweglichkeit seines Daumens nach einer weiteren Operation, zu freuen. Rückblickend sieht er darin seine wichtigste Erkenntnis: »Hätte ich damals so sehr darauf gehofft, wieder ›normal‹ zu werden, hätte ich mich nicht über die Beweglichkeit in meinem Daumen freuen können, sondern nur gedacht: Verdammt noch mal, ich will mein altes Leben zurück. Erst als ich dazu bereit war, den Kampf mit mir selbst aufzunehmen, änderte sich meine Perspektive. Es war nur ein kleiner Bruch, eine minimale Verschiebung in meiner Wahrnehmung, aber plötzlich war alles anders. Ich fühlte mich gut. Ich empfand eine tiefe Dankbarkeit. Ich freute mich über das, was war, und ärgerte mich nicht über das, was nicht da war.« 27
Ihm bleiben gerade mal zehn Prozent Restmuskulatur, ein klarer Verstand und Willenskraft. Auf dieser Basis gelingt es ihm, Schritt für Schritt seine hoffnungslose Lage zu verändern. Unglaublich, aber wahr: Heute ist Boris Grundl ein erfolgreicher Unternehmer, glücklicher Vater und Ehemann und leidenschaftlicher Rollstuhl-Rugbyspieler.
Wie Boris Grundl musste auch Anna King erst mühsam lernen, einen Schicksalsschlag anzunehmen, um schließlich in ihrem veränderten Leben Glück zu finden.
Als erfolgreiche Werbefilmerin arbeitet Anna King in einer Welt, in der Schönheit eine große Rolle spielt. Das gilt auch für ihr Privatleben. Ästhetik bedeutet ihr viel, sie kleidet sich mit Qualität, ist edel eingerichtet, mag es ordentlich und sauber. Vor Behinderten ekelt sie sich regelrecht. Anna wird schwanger. Während einer Routineuntersuchung entdeckt ihr Gynäkologe eine Anomalie im Gehirn des Fötus. Ängstlich fragt Anna, was das denn für das Kind bedeute. Der Arzt will sich nicht festlegen: Sehstörungen vielleicht, eventuell Spastiken, aber Genaues ließe sich nicht sagen, das könne alles heißen – von kerngesund bis zur schwersten Behinderung. Bei jeder weiteren Untersuchung |106| werden die Diagnosen bedrohlicher. Trotzdem sagen die Ärzte, das könne alles und nichts bedeuten. Es gebe Kinder mit dieser Anomalie, die so klug würden wie Albert Einstein. Eine Abtreibung kommt für Anna also nicht infrage.
Als die kleine Lena zur Welt kommt, ist Anna glücklich. Süß sieht ihre Tochter aus. Dass der Mund zu groß ist, fällt ihr zunächst nicht auf. Doch als der Säugling gähnt, sieht sie, dass der Rachen hinten offen ist. Lena
Weitere Kostenlose Bücher