Tango Vitale
entdecken wollen, ist es hilfreich, sich zu fragen: Was ist mein Gewinn aus diesem Schicksalsschlag? Das mag zunächst zynisch klingen, aber tatsächlich findet sich fast immer etwas Gutes im Schlechten.
Manchmal ist der Gewinn – und damit der Sinn – schon bald äußerlich sichtbar. Wie etwa bei der von der Presse als »Cashmere-Queen« bezeichneten Modedesignerin Iris von Arnim: Anfang der 70er Jahre musste sie nach einem schweren Autounfall lange im Krankenhaus |111| liegen. Sie fing an zu stricken. Daraus wurde eine Geschäftsidee, und heute beliefert sie mit ihren hochwertigen Strickwaren Kunden weltweit.
Oft besteht der Gewinn aber auch darin, dass sich ein Mensch durch das Ereignis innerlich verändert. Seine Persönlichkeit bekommt eine Dimension, die bisher gefehlt hat. Boris Grundl berichtet, dass er vor seinem Unfall sehr leistungsorientiert war. Die Anerkennung von außen bedeutete ihm viel. »Damals war ich abhängig von anderen, die mich für meine Leistung mit Anerkennung oder Liebe belohnten. Ich war nicht frei, und ich lernte erst nach dem Unfall, dass ich meine Freiheit nur finde, wenn ich mir meinen eigenen inneren Bezugsrahmen schaffe. In der Klinik musste ich mehr leisten als je zuvor, aber es ging nicht mehr darum, die Öffentlichkeit zu beeindrucken.« 29
Auch Anna King hat der Schicksalsschlag verändert: »Ich hielt mich für schlauer als die anderen, für intellektueller, ich war immer auf der Gewinnerseite, ein Alphatier – und nun zerbröselten mein Stolz und meine Überheblichkeit.« Durch ihr behindertes Kind hat sie gelernt, Hilfe anzunehmen und Hilfe zu geben, indem sie Vorträge hält und Spenden für das Behindertenheim sammelt. Für manche verschiebt sich durch die Katastrophe auch die Gewichtung in ihrem Leben. Sie erkennen plötzlich, was wirklich zählt. Mehr als einmal habe ich von Krebskranken gehört: »Jetzt wage ich endlich, an mich zu denken.«
Der Sinn des Leidens
Was aber ist, wenn sich kein Sinn mehr finden lässt? Wenn der Schicksalsschlag einfach nur grausam und unverständlich erscheint? Viktor Frankl sieht einen letzten großen Sinn darin, dass wir dann das unabwendbare, hoffnungslose Leid mit Würde annehmen und ertragen. »Darin aber, wie er selbst, der von diesem Schicksal Betroffene, dieses Leid trägt, darin liegt auch die einmalige Möglichkeit zu einer einzigartigen |112| Leistung.« 30 Selbst einem völlig sinnlos erscheinenden Leiden und Sterben können wir einen Sinn geben, indem wir entscheiden, wie wir darauf reagieren wollen: »In der Art, wie ein Mensch sein unabwendbares Schicksal auf sich nimmt, mit diesem Schicksal all das Leiden, das es ihm auferlegt, darin eröffnet sich auch noch in den schwierigsten Situationen und noch bis zur letzten Minute eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten. Je nachdem, ob einer mutig und tapfer bleibt, würdig und selbstlos oder aber im bis aufs äußerste zugespitzten Kampf um die Selbsterhaltung sein Menschtum vergisst – je nachdem hat der Mensch die Wertmöglichkeit, die ihm seine leidvolle Situation und sein schweres Schicksal geboten haben, verwirklicht oder verwirkt.« 31
Indem man dem Leiden mit einer würdigen Haltung begegnet, ergibt sich außer dem individuellen zusätzlich noch ein weiterer Sinn: Die Betroffenen werden zum Vorbild für andere Menschen in ähnlichen Situationen.
Im Sommer 1994 erfährt der lebenslustige, aktive Soziologieprofessor Morrie Schwartz, dass er unheilbar an einem Leiden des Nervensystems erkrankt ist. Die Krankheit führt mit Sicherheit zum Tode. Häufig beginnt sie an den Beinen und breitet sich dann nach oben aus. Man verliert die Kontrolle über die Oberschenkelmuskeln und kann nicht mehr gehen. Dann versagt die Rumpfmuskulatur, sodass man nicht mehr sitzen kann. Schließlich atmet man nur noch durch ein Röhrchen in einem Loch im Hals, während der Geist hellwach in einer erschlafften Körperhülle gefangen ist, vielleicht ist man noch fähig zu blinzeln oder mit der Zunge zu schnalzen. Am Ende versagt die Atmung, man erstickt.
Morries Ärzte vermuten, dass er noch zwei Jahre zu leben hat. Er ahnt, dass es nur noch ein paar Monate sind, und fragt sich: Werde ich jetzt nach und nach verwelken und verschwinden – oder werde ich das Beste aus der Zeit machen, die mir verbleibt? Morrie entschließt |113| sich, sein langsames Sterben zu seinem letzten großen Projekt zu machen. Seine ungewöhnliche Überlegung ist: Da jeder irgendwann sterben
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