Tante Dimity und der Fremde im Schnee
das Telefon. Ich zuckte zusammen und griff nach dem Hörer.
»Julian?«
»Nein, Lori, ich bin’s«, sagte Miss Kingsley.
»Ich habe die Informationen, die Sie brauchen, und ich muss sagen, sie sind faszinierend.
Christopher Smith verbrachte annähernd sechs Monate als Insasse der Heathermore-Klinik«, begann Miss Kingsley.
Ich schloss die Augen und flüsterte: »O nein
…«
»Das heißt nicht, dass er ein Patient war«, sagte Miss Kingsley. »Ich will damit sagen, dass sich Kit Smith wahrscheinlich nicht dort aufgehalten hat, weil er krank war.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich will versuchen, es zu erklären.« Ich hörte das Rascheln von Papier, als Miss Kingsley ihre Notizen ordnete. »Die Heathermore-Klinik lag in Skellingthorpe, bei Lincoln.«
»Lag?«, warf ich ein.
»Wenn ich dann fortfahren dürfte …«, sagte Miss Kingsley mit einem Hauch von Tadel in der Stimme.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Bitte, erzählen Sie weiter.«
Miss Kingsley räusperte sich. »Wie ich bereits sagte, die Heathermore-Klinik lag in Skellingthorpe. Die privat geleitete Institution hatte seit 28 Jahren bestanden, als sich ein Christopher Smith, Alter 38 Jahre, an der Pforte einfand und darum bat, eingewiesen zu werden.«
»Er hat sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen?«, fragte ich ungläubig.
»In der Tat«, bestätigte Miss Kingsley. »Aus seinen Unterlagen geht hervor, dass er ein Obdachlosenheim in Lincoln als Adresse angegeben hatte. Er behauptete, an häufig wiederkehrenden Depressionsschüben zu leiden, und bat um sofortige Aufnahme.«
Ich stellte mir vor, wie Kit vor der Tür der Privatklinik gestanden hatte. Was wird man von ihm gehalten haben, mit seinen zerlumpten Kleidern, dem wirren Haar?
»Unglaublich, dass sie ihn dort aufgenommen haben«, sagte ich. »Haben sie kein Geld von ihm verlangt?«
»Man verlangte erhebliche Summen von den Patienten«, sagte Miss Kingsley erzürnt. »Aber offensichtlich hat sich die behandelnde Ärztin, eine Dr. Rosalind Chalmer, Kits erbarmt. Ihre Notizen sind äußerst aufschlussreich. Es scheint, dass sie von ihm regelrecht bezaubert war.«
»Willkommen im Club«, murmelte ich.
»Wie bitte?«, fragte Miss Kingsley.
»Ach nichts«, sagte ich schnell. »Bitte, fahren Sie fort.«
»Dr. Chalmers zufolge war Kit ein Musterpatient. Die Unterlagen besagen, dass er regelmäßig seine Pillen nahm und sich äußerst ruhig verhielt.
Er sprach derart gut auf seine Behandlung an, dass ihm erlaubt wurde, als Aushilfe in der Verwaltung der Klinik zu arbeiten.«
»War das die ganze Behandlung?«, fragte ich.
»Nur Tabletten?«
»Heathermore verteilte nichts als Pillen.« Miss Kingsley schnaubte verächtlich. »Und sie stellten exorbitante Rechnungen. Eine Schande. Der Schlussbericht der Untersuchungskommission …«
»Moment, Moment«, unterbrach ich sie.
»Nicht so schnell. Was für ein Schlussbericht?
Welche Untersuchungskommission?«
»Einen Monat nachdem Kit sich selbst in Heathermore eingewiesen hatte, erhielten gewisse Regierungsabteilungen Anrufe aus der Klinik«, erläuterte Miss Kingsley. »Der Anrufer berichtete von unhygienischen Zuständen, katastrophaler Verpflegung, zahlreichen Fällen von Misshandlung und einem krassen Mangel an qualifiziertem Personal.«
»Und wissen Sie, wer der Anrufer war?«, fragte ich und packte den Hörer fester.
»Eine anonyme Quelle. Ein Mann. Es ist niemandem gelungen, ihn zu identifizieren.«
Er wollte sich nicht hervortun, dachte ich. Das ist nicht sein Stil.
»Aufgrund der Berichte wurde die Heathermore-Klinik vor etwa einem Jahr geschlossen«, sagte Miss Kingsley. »Ein Teil des Personals wurde angeklagt, andere wurden lediglich entlassen. Die Patienten wurden woanders untergebracht, die Unterlagen verschlossen. Deshalb hat es so lange gedauert, bis …«
»Miss Kingsley«, unterbrach ich sie. »Was wurde aus Kit?«
»Das weiß niemand«, antwortete sie. »Einer der Busse, die die Patienten zu einer Klinik in Cambridgeshire bringen sollten, hatte kurz vor dem Ziel eine Panne. Kit ist einfach verschwunden.«
Nur um kurz darauf in der Kirche von Great Gransden aufzutauchen, wo er eine neue Aufgabe fand – die Rettung der Blackthorne Farm.
»Die Behörden hatten mit dem Skandal von Heathermore genug zu tun«, fuhr Miss Kingsley fort. »Da Kit keine Gefährdung für die Allgemeinheit darstellte, wurde zu keinem Zeitpunkt ernsthaft nach ihm gesucht. Und soweit ich es sagen kann, ist er
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