Tante Dimity und der skrupellose Erpresser
Onkel. Er kennt diese Kollektion wie seine eigene Westentasche und wird schon nervös, wenn die Bände nicht in Reih und Glied stehen. Ihm würde es auffallen, wenn irgendetwas beschädigt wäre, an einem falschen Ort stünde oder gar fehlen würde.«
»Und ihm ist nichts dergleichen aufgefallen?«, fragte Simon.
»Nein.« Ich stützte den Ellbogen auf mein Knie. »Er hat mir erzählt, dass er oder Ihr Onkel sich fast ständig hier aufhalten.«
»Was es schwierig machen würde, sich hier unbemerkt herumzudrücken.« Simon schob die Finger ineinander. »Und wenn Mr Huang ein solcher Bücherfreund ist, dürfte er es wohl kaum übers Herz bringen, eines zu zerschneiden. Und ich weigere mich einfach zu glauben, dass mein Onkel mir diesen Drohbrief geschrieben oder die Turteltaube angezündet hat. Kann trotzdem jemand anderes in der Bibliothek gewesen sein?«
»Ich glaube, das spielt keine Rolle, denn mir ist da etwas eingefallen …« Ein Gedanke war mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seit Dimity mir von dem Drohbrief berichtet hatte, den sie bekommen hatte und der aus merkwürdigen Schrifttypen bestanden hatte. »Haben Sie den Brief mitgebracht?«
Als Simon sich vorbeugte, um den Brief aus seiner Gesäßtasche zu holen, verzog er vor Schmerzen das Gesicht. Die Bewegung schien ihm derart weh zu tun, dass ich aufsprang und ihm den Brief abnahm, so dass er ihn mir nicht auch noch reichen musste. Ich faltete ihn auseinander und breitete ihn auf der Sessellehne aus.
Ein Blick bestätigte meine Vermutung.
»Schauen Sie«, sagte ich und deutete auf die einzelnen Buchstaben. »Die Buchstaben sind nicht nur verschieden groß, sie sind auch verschiedenfarbig. Und die Schrifttypen, ganz verspielt und launig.«
»Ein launiger Drohbrief«, meinte Simon trocken. »Das ist mal originell.«
»Ich meine damit Folgendes«, sagte ich eifrig.
»Wer immer diesen Drohbrief zusammengeklebt hat, hat Buchstaben aus Kinderbüchern benutzt.
Wir sind hier am völlig falschen Ort. Wir sollten im …«
»Im Kinderzimmer suchen«, flüsterte Simon.
»Dort wo niemals jemand hingeht.« Er sah mich bewundernd an. »Lori, Sie sind einfach brillant.
Ich selbst wäre im Leben nicht darauf gekommen. Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?«
»Indem Sie mir die Wahrheit sagen.« Ich sah ihn durchdringend an und deutete auf den anonymen Brief. »Ist das der erste Drohbrief, den Sie erhalten haben?«
Simon hob eine Augenbraue. »Warum fragen Sie mich das?«
»Ich bin durch Oliver darauf gekommen«, sagte ich. »Oliver erwähnte, dass Ihnen etwas schon seit geraumer Zeit Kummer bereitet.«
»Das hat Oliver gesagt?« Simon schien überrascht.
»Er ist ein guter Beobachter«, sagte ich. »Und er macht sich Sorgen um Sie, und deshalb möchte ich wissen …«
In diesem Augenblick bewies Giddings
schlechtes Timing, indem er die Bibliothek betrat.
»Verzeihen Sie, Sir, Madam.« Der Butler beugte sich zu Simon herunter. »Lord Elstyn wünscht Sie im Arbeitszimmer zu sehen, Sir.«
»Jetzt?«, fragte Simon.
»Umgehend, Sir. Lord Elstyn drückte sich unmissverständlich aus.« Giddings verbeugte sich und verschwand.
Simon seufzte entnervt, faltete den Brief wieder zusammen und legte ihn in meine Hände.
»Gehen Sie schon mal zum Kinderzimmer vor, Lori. Es befindet sich im Nordflügel, dritter Stock, genau über Ihrem und meinem Zimmer.
Ich komme nach, sobald ich kann.«
Er richtete sich so langsam auf, dass ich ihn fast gestützt hätte.
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?«, fragte ich.
»Ging mir nie besser.« Er holte flach und gepresst Atem, richtete sich mühselig auf und ging zu seinem Onkel.
»Und da wundern sich die Leute, warum ich nicht reite«, murmelte ich und machte mich auf den Weg zum Kinderzimmer.
10
WÄHREND ICH DIE Haupttreppe hinaufging, dämmerte es mir, dass es vielleicht nicht ratsam wäre, wenn jeder, dem ich begegnete, den Drohbrief sehen könnte, den mir Simon zur Verwahrung gegeben hatte. Mein Tweedrock hatte keine Taschen, daher schob ich das gefaltete Blatt unter den hinteren Rockbund, wo er unter meiner Strickjacke unsichtbar blieb.
Ich strich den Pullover glatt, als Emma die Treppe hinunterkam und dabei meinen Namen rief. Sie hatte ihre schwarze Reitgarderobe gegen einen dunkelroten Pullover aus Lammwolle und enge schwarze Hosen eingetauscht. Ihr Gesicht war von der sportlichen Betätigung noch gerötet, und sie schien bester Dinge zu sein.
»Hast du Derek gesehen?«, fragte sie mich, als sie mich
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