Tante Dimity und der skrupellose Erpresser
macht.
Ich bitte Sie, ihm ein Freund zu sein. Denn wissen Sie, er hat keine. Er hat Geschäftspartner und Bekannte, ja, aber nicht einen einzigen Freund.«
»Was ist mit seiner Frau?«, fragte ich.
»O nein, nicht Gina.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Gina kann eine brauchbare Verbündete sein, aber kein Freund.«
Ich sah auf meinen Teller hinab, aber das Essen schmeckte mir nicht mehr. Ich verstand jetzt besser, warum Simon der Liebling seines Onkels war. Simon liebte Hailesham, und er liebte Pferde, und er hatte eine Frau geheiratet, die alle Voraussetzungen mitbrachte, ein großes und komplexes Familienvermögen zu verwalten. Ob sie ihn liebte oder nicht, schien zumindest in Olivers Augen noch nicht geklärt. Simon hatte bewusst den Weg eingeschlagen, den Derek nicht gehen wollte. Glaubte Simon vielleicht auf diese Weise als Lord Elstyns Erbe eingesetzt zu werden?
Ich hob den Blick. »Aber Sie sind doch Simons Freund, nicht wahr, Oliver?«
»In meiner Familie«, sagte er leise, »dürfen Brüder nicht befreundet sein.«
In diesem Moment erklang ein so durchdringendes Gebrüll, dass Oliver und ich zusammenzuckten.
» Ich fasse es nicht , Derek ! Mein Goldmädchen hat sich in einen Stallburschen verliebt?«
Lord Elstyns markantes Organ hallte durch die marmorne Eingangshalle. »Das ist völlig inakzeptabel!«
»Sie scheint schon wieder darüber hinweg zu sein, Vater.« Auch Derek war offensichtlich in der Eingangshalle, und auch er hielt es nicht für nötig, die Stimme zu senken. »Aber Emma wollte, dass ich dich in Kenntnis setze, für den Fall, dass es irgendwie zur Sprache käme. Ich dachte mir schon, dass das ein Fehler sein würde.«
»Ich mache dich für diese unsägliche Liebelei verantwortlich«, donnerte der Earl. »Wenn du standesgemäß geheiratet hättest, wäre Nell nie auf den Gedanken gekommen …«
»Nell könnte sich glücklich schätzen, wenn Kit sie erhört hätte!« Derek stand seinem Vater an Lautstärke in nichts nach. »Tatsache ist, dass Kit nichts mit ihr zu tun haben wollte.«
»Er wollte nichts mit ihr zu tun haben?«, ereiferte sich der Lord nun. »Was für eine Unverschämtheit! Wenn dieser Kit Smith auch nur einen Fuß auf mein Land setzt, lasse ich ihn erschießen.«
»Kit würde nicht einmal für ein Vermögen hier auftauchen«, gab Derek zurück. »Dazu ist er viel zu anständig.«
»Schmeiß ihn raus!«, verlangte der Earl.
»Ich werde nichts dergleichen tun«, verkündete Derek standhaft. »Kit ist mehr für uns als ein Angestellter. Er ist ein Freund, auf den wir uns verlassen können.«
»Ihr kümmert euch mehr um euch selbst als um eure Tochter«, schnaubte der Earl. »Ich hätte es wissen müssen. Gina, Bill, kommt mit mir. Ich habe ihm nichts mehr zu sagen, diesem … diesem Undankbaren !«
Türen wurden zugeschlagen, Schritte hallten auf der Marmortreppe. Dann war alles still.
Oliver sah mich an, als sei eine Bombe eingeschlagen. »Was um alles in der Welt …?«
»Nell hat sich in einen Mann verknallt, der für Derek arbeitet«, erklärte ich ihm. »Niemand ist schuld daran, und er ist auch gar nicht interessiert. Wobei es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, wenn er es wäre.«
Oliver warf einen fast ängstlichen Blick zur Eingangshalle. »Mein Onkel würde Ihnen nicht zustimmen.«
»Ihr Onkel«, entgegnete ich, »kennt Kit nicht.«
»Ich hoffe inständig, dass er ihm nie begegnet«, sagte Oliver heftig. »Brennende Büsche sind schlimm genug, aber wenn einem auch noch die Kugeln um die Nase fliegen …«
Ich dachte an den Drohbrief und hoffte, Olivers Worte würden sich nicht als prophetisch erweisen.
9
OLIVER GING AUF sein Zimmer, um Telefongespräche zu führen, und wohl auch, um seinem erzürnten Onkel aus dem Weg zu gehen. Ich trank gerade meine letzte Tasse Tee, als Giddings in den Speisesaal zurückkehrte und mir ein an mich adressiertes Päckchen brachte. Ich erkannte die Handschrift auf dem Aufkleber, drückte den braunen Umschlag vorsichtig und lächelte.
»Es ist vom Kindermädchen meiner Jungs«, sagte ich zu Giddings. »Ihr muss aufgefallen sein, dass ich vergessen habe, meine Abendschuhe einzupacken, und sie hat sie mir nachgeschickt.«
»Soll ich das Päckchen auf Ihr Zimmer bringen, Madam?«, fragte Giddings.
»Ja, bitte.« Ich schaute auf meine Uhr. »Würden Sie mir bitte auch den Weg zur Bibliothek zeigen? Man sagte mir, sie soll sehr schön sein.«
»Die Bibliothek befindet sich im Parterre des Hauptgebäudes,
Weitere Kostenlose Bücher