Tante Dimity und der unbekannte Moerder
Während ich an meinem dampfenden Kakao nippte, musterte ich Nicholas kritisch.
»Du solltest dich wirklich schämen«, schalt ich ihn. »Was hast du dir nur dabei gedacht, als du bei ihnen durchs Fenster geschaut hast?«
»Ich wollte nur meine Ahnung bestätigen.«
»Was für eine Ahnung?«
»Eine ganz neue. Sie ist mir gekommen, als du Miss Morrows Beruf erwähnt hast.« Über den Rand seiner Tasse hinweg bedachte er mich mit einem forschenden Blick. »Was haben sie denn deiner Meinung nach da drinnen getrieben?«
Ich wurde rot. »Das schien mir doch recht eindeutig.«
»Du hast ja nicht mal hingeschaut«, wandte er ein.
»Ich wollte nicht hinschauen«, korrigierte ich ihn.
Nicholas drohte mir mit dem Zeigefinger.
»Ohne Kenntnis aller Fakten sollte man keine Theorien aufstellen, Lori. Das wirkt sich verhängnisvoll auf die Ermittlungen aus.«
»Na gut, Chefinspektor«, entgegnete ich sarkastisch. »Sag mir, was du gesehen hast.«
»Ich habe …« – Nicholas steigerte die Spannung mit einer Kunstpause, ehe er in beiläufigem Ton fortfuhr – »… eine ausgebildete Physiotherapeutin bei der Behandlung eines Patienten gesehen.«
Mir klappte der Mund auf. Nicholas quittierte das mit einem Grinsen.
»Miss Morrow hat Mr Wetherhead eine therapeutische Massage verabreicht«, präzisierte er. »Ihr Auftreten war das einer kompetenten und höchst professionellen Masseurin. Sie benutzte einen tragbaren Massagetisch und Kräuteröle, die sie vermutlich selbst gemischt hatte.«
Er trank seinen Kakao aus und stellte die Tasse ab. »Hexerei ist unter anderem auch ein Heilberuf.«
»Eine therapeutische Massage«, wiederholte ich verdattert. Doch plötzlich fiel der Groschen –
oder vielmehr ein ganzes Sparschwein. »Miranda bearbeitet Georges kaputte Hüfte! Deshalb also braucht er jetzt keinen Stock mehr!«
»Damit ist vielleicht auch erklärt, warum sie ihn heimlich aufsucht.« Nicholas schlug die Beine übereinander. »Eine Hüftverletzung erfordert nun mal Handgriffe an ziemlich intimen Bereichen des Körpers. Mr Wetherhead mag bereit sein, solche Handgriffe zuzulassen, damit seine Beschwerden gelindert werden, aber es kann durchaus sein, dass er sie zugleich auch als äu ßerst peinlich empfindet.«
»Das tut er ganz bestimmt«, versicherte ich Nicholas. »Zumal, da diese Handgriffe von einer Frau vorgenommen werden. Und nicht von irgendeiner Frau, sondern einer attraktiven, unverheirateten Hexe. Der arme Kerl …« Ich umfasste meine Tasse mit beiden Händen. »Er hat solche Angst vor einem Skandal, dass er die Behandlung zu einem Zeitpunkt durchführen lässt, der genau die Gerüchte auslöst, die er verhindern wollte.« Ich leerte die Tasse und stellte sie auf den Couchtisch. »Dick Peacock wird zutiefst enttäuscht sein, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.«
»Apropos Dick Peacock …«, half mir Nicholas auf die Sprünge.
Ich erzählte ihm von dem Van, den Kartons und dem Päckchen, das Dick dem Fahrer gegeben hatte. Und voller Stolz auf mich selbst nannte ich ihm sogar auswendig die Autonummer.
»Mrs Pyne hat also die Wahrheit gesagt«, schloss Nicholas. »Und Mr Peacock hat sie verschleiert.«
»Ich glaube, er kauft geschmuggelten Schnaps«, verkündete ich.
»Das ist möglich, ja.« Nicholas wackelte mit den Zehen, als genieße er die Wärme vor dem Kamin. »Es ist nicht leicht, einen Pub in einem Nest wie Finch am Laufen zu halten. Mr Peacock wäre nicht der erste Wirt, der die Kosten senkt, indem er seinen Vorrat mit steuerfreien Getränken aufstockt.«
»Sally Pyne scheint von seinem Treiben zu wissen«, warf ich ein. »Und es scheint sie nicht zu stören. Pruneface dagegen war wohl nicht so tolerant.«
Nicholas legte den Kopf zurück und zitierte aus dem Gedächtnis: »Man kann Interesse zeigen und man kann seine verdammte Nase in Angelegenheiten stecken, in denen sie einen Dreck zu suchen hat.« Er schürzte die Lippen. »Mrs Hooper scheint die Nase sowohl in Mr Peacocks als auch Mr Wetherheads Angelegenheiten gesteckt zu haben.«
»Wahrscheinlich hat sie alle beide vom Crabtree Cottage aus ausspioniert.« Ich setzte mich auf meine Beine, zog mir die Decke über den Schoß und schmiegte mich an die mit weichem Samt bezogene Lehne. »Mich würde brennend interessieren, ob sie ihnen gedroht hat, sie bloßzustellen.«
»Wenn ja, hätten beide ein Mordmotiv gehabt«, brummte Nicholas. »Ihr loses Mundwerk wäre eine Bedrohung für Mr Peacocks Lebensunterhalt und für Mr Wetherheads
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