Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
auf die Unterlippe. »Aber ich bin unhöflich. Bitte verzeihen Sie mir.« Er drehte den Kopf, um mich nicht ansehen zu müssen, und schob sich seitwärts durch die nächste Bankreihe, um auf dem schnellsten Weg zur Tür zu kommen.
»Warum sollte es Sie interessieren, was ich fühle?«, rief ich ohne nachzudenken.
Gerald blieb in der Bankreihe stehen und stützte sich mit den Armen auf die Rückenlehnen vor ihm, seine Schultern waren herabgesunken, als ob ihn jemand gegen die Brust geboxt hätte. Er holte tief Luft, die er langsam wieder ausatmete. »Ich habe in letzter Zeit viele Menschen verletzt, Miss Shepherd, und ich hatte keine Möglichkeit, mich bei ihnen zu entschuldigen. Der Gedanke, dass es wieder passieren könnte …« Seine blaugrünen Augen sahen mich bittend an. »War es das, was ich über meinen Vater gesagt habe? Als ich über seine Krankheit sprach, sahen Sie so betroffen aus, dass ich dachte, auch Ihr Vater sei vielleicht …«
»Nein.« Ich suchte in seinem Gesicht nach Unehrlichkeit, sah aber nur Schmerz und Verwirrung.
Ich konnte ihn ohne eine Erklärung nicht gehen lassen. Widerwillig setzte ich mich neben ihn auf die Kirchenbank, auf die er sich hatte fallen lassen, halb mir zugewandt, den Arm auf der Lehne vor ihm.
»Mein Vater starb, als ich drei Monate alt war«, sagte ich leise. »Ich habe keinerlei Erinnerung an ihn, aber ich habe mich immer gefragt, wie es wohl sein mag, einen Vater zu haben. Als ich … anfing, für Mr Willis zu arbeiten, kam es mir vor, als ob ich einen gefunden hätte.« Ich seufzte. »Und nun sieht es aus, als sollte ich ihn wieder verlieren.«
»Er ist doch hoffentlich nicht krank«, sagte Gerald und beugte sich herüber zu mir.
»Man kann Menschen auch auf andere Art verlieren«, sagte ich. »Zum Beispiel dieser Vorschlag von ihm. Ich weiß, Sie dürfen nicht mit mir dar über sprechen, ich weiß auch, dass es zu Ihrem Vorteil wäre und dass ich kein Recht habe, von Ihnen ein solches Opfer zu verlangen, aber wenn er es wieder zur Sprache bringt, wäre ich … wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es ihm ausreden würden.«
Gerald lehnte sich in der Bank zurück und sah nachdenklich auf den Altar. »Es stimmt schon, dass Vetter William mich gebeten hat, unser Gespräch vertraulich zu behandeln«, gab er zu. »Er möchte nicht, dass sein Sohn oder seine Schwiegertochter davon erfahren, ehe er alles unter Dach und Fach hat.« Mir entfuhr unwillkürlich ein leises Stöhnen und Gerald sah mich besorgt an. »Es tut mir Leid, Miss Shepherd, aber es liegt nicht in meiner Macht, Ihren Chef auf die eine oder andere Weise zu beeinflussen. Wie ich Ihnen schon sagte, ich habe mit der Juristerei abgeschlossen. Ich habe nicht die Absicht, wieder zu praktizieren, weder mit Vetter William noch mit jemand anderem.« Er beugte sich vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die langen Finger ineinander verknotet.
»Dieser Teil meines Lebens ist vorbei.«
Das klang so niedergeschlagen, dass ich meine Hand auf seinen Arm legte. »Es ist schon in Ordnung, Gerald. Dann muss ich es eben bei Ihrer Cousine Lucy versuchen.« Ich merkte, wie ein fast unmerkliches Zittern ihn durchfuhr, und fragte mich, ob Lucy diejenige war, die ihn zum Aufgeben gezwungen hatte.
Gerald wandte sich zu mir, und wieder fiel mir auf, wie breit seine Schultern waren. Sie schienen die gesamte Breite der Kirchenbank zu füllen.
»Warum sind Sie so vehement gegen Vetter Williams Pläne?«
»Weil ich ihn dann verliere«, erwiderte ich und hoffte, dass meine Stimme nicht zitterte. »Verstehen Sie denn nicht? Dann läge ein ganzer Ozean zwischen uns.«
»Könnten Sie nicht mitkommen?«, schlug Gerald vor.
Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich sollte ich mit Bill über seinen Vater sprechen und nicht mit einem Vetter, mit dem er so weitläufig verwandt war, dass man ihn kaum noch zur Familie zählen konnte. »Sie verstehen nicht«, sagte ich und schlug die Augen nieder. »Ich habe auch Bindungen, Verpflichtungen. Außerdem würde der Sohn von Mr Willis sicher erwarten, dass ich … für ihn arbeite.«
»Ach so«, sagte Gerald. Er schwieg, und ich merkte, dass er mich ansah. »Sie mögen ihn, nicht wahr?«
»Den Sohn?« Ärger stieg in mir hoch. »Ich kenne ihn kaum.«
»Ich meinte den Vater«, sagte Gerald.
Plötzlich war ich schrecklich müde und den Tränen nahe. Ich rieb mir die Stirn und versuchte, meine Gefühle in den Griff zu kriegen. »Vielen Dank, Gerald, dass Sie mir hierher nachgekommen
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