Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
TennysonFenster von Sir Edward BurneJones entworfen worden.
Da ich schon immer eine Vorliebe für Tennyson hatte, legte ich den Prospekt zurück und ging auf die andere Seite, um mir das Fenster des Hofdichters zuerst anzusehen. Draußen war es bereits ganz dunkel und daher konnte man das Bild aus Buntglas kaum erkennen, die Worte darunter waren jedoch gut lesbar. Sie waren aus dem Gedicht »The Holy Grail«:
» Ich , Galahad , sah den Gral , Den Heiligen Gral auf den Altar sich senken , Und so gestärkt ritt ich davon
Zu zerschmettern alles Böse auf der Welt … «
Galahad, dessen Herz so rein war, dass ihm ein Blick auf den Heiligen Gral gewährt worden war, war mir schon immer ziemlich melancholisch vorgekommen. Tennyson hatte sein Möglichstes getan, um den Kampf des jungfräulichen Ritters gegen das Böse als fromme und freudige Pflichterfüllung darzustellen, aber für mich klang auch ein leises Bedauern aus Galahads Worten, wenn er über seinen Verzicht auf die Liebe einer Frau sprach: » Ich spürte nie der Liebe Kuss , noch die Hand einer Jungfrau in meiner .«
Vielleicht wollte er sich auch nur wichtig machen, dachte ich jetzt, als ich wieder zum Fenster hinaufsah. Der alte Galahad wird bestimmt kein Waisenknabe gewesen sein. Zudem war der Liebe Kuss auch nicht mehr so überwältigend, wenn man erst mal den Kummer durchmachen musste, der nur allzu oft danach kam. Mit einem wehmütigen Lächeln wollte ich mich dem Fenster von Hopkins zuwenden, als ich ein Geräusch hinter mir hörte.
Überzeugt, dass der Finanzausschuss einstimmig beschlossen hatte, meinen Besuch abzukürzen, war ich bereits entschlossen zu gehen, blieb aber wie angewurzelt stehen.
Gerald Willis stand in der Tür.
11
ER WAR GEKLEIDET wie am Nachmittag, er trug das braune Baumwollhemd und die verwaschenen Jeans, nur dass er jetzt, wo es kühler war, eine braune Wildlederjacke angezogen hatte. Er grüßte mich mit einem Lächeln, ehe er an der Rückwand der Kirche entlangging und dann durch den Seitengang zu mir kam. Er blieb stehen, um das TennysonFenster zu betrachten, dann schloss er die Augen und rezitierte:
» Meine Klinge zerteilt die Helme der Männer , Meine Lanze trifft sicher ihr Ziel , Meine Stärke ist die Stärke von zehn , Denn mein Herz ist rein .«
Geralds Augen öffneten sich wieder und sein Grübchen erschien. »Das mag alles ziemlich eindrucksvoll sein, aber wenn sich in meiner Schule einer so aufgeplustert hätte, wäre er wahrscheinlich ein toter Mann gewesen.«
»Was machen Sie hier?«, fragte ich misstrauisch.
Gerald sah vielleicht genauso gut aus wie Galahad, aber sein Herz war alles andere als rein.
»Ihr Aktenkoffer«, sagte er. »Sie haben ihn bei mir stehen gelassen. Ich habe ihn ins Hotel gebracht und Nicolette gefragt, wo ich Sie finden könnte. Ich wollte nicht, dass Sie sich wegen der Papiere für Vetter William Sorgen machen.«
»Oh, danke.« Ich hoffte, dass er in der indirekten Deckenbeleuchtung mein Erröten nicht bemerken würde. »Ich wäre deswegen schon zurückgekommen, aber ich …«
»Sie brauchen nichts zu erklären«, sagte Gerald.
»Selbst die gewissenhafteste Assistentin verdient gelegentlich einen freien Abend.« Seine Augen schweiften über den Altar, die Bankreihen und die Buntglasfenster. »Darf ich Ihnen meine Dienste anbieten? Ich bin ein sehr guter Führer. Als ich vor zwei Jahren hierher zog, habe ich mich sehr intensiv mit meiner neuen Umgebung befasst.« In der stillen Kirche klang seine tiefe Stimme wie eine Orgel.
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte ich, indem ich ein paar Schritte zurücktrat, »aber ich wollte eigentlich ein bisschen allein sein.«
Geralds Grübchen verschwand. »In Ordnung«, sagte er. Er wandte sich zur Tür, zögerte, dann drehte er sich um und sah mich wieder an. »Miss Shepherd, wenn ich Sie in irgendeiner Weise beleidigt habe …«
»Warum denken Sie, dass ich beleidigt bin?«, fragte ich.
Gerald öffnete die Hände. »Erst nehmen Sie die Einladung zum Tee an, im nächsten Moment brechen Sie auf. Ich kann daraus nur den Schluss ziehen, dass ich etwas Falsches gesagt oder getan haben muss.«
»Ich habe Ihnen doch erklärt …«
»Dass Sie wegen dieser Papiere schnell zu Ihrem Chef zurückmüssten«, unterbrach Gerald. »Papiere, die so wichtig sind, dass Sie es sich leisten können, sie bei mir liegen zu lassen, bis Sie von Ihrem Spaziergang zurück sind. Ich bin nicht dumm, Miss Shepherd.« Er ließ den Kopf hängen und biss sich
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