Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
erhoffte.
»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Nell, als ich ihr von meinen Plänen erzählte.
»Danke, Nell«, sagte ich, »aber ich glaube, ich würde gern ein bisschen allein sein.«
»Aber du hast noch nichts gegessen«, protestierte sie und langte nach der runden Büchse, die Gerald mir gegeben hatte. »Und du hast Bill auch noch nicht angerufen.«
Ich sah auf die Uhr. »In Maine ist es jetzt erst früher Nachmittag. Ich habe noch reichlich Zeit, ihn später anzurufen. Du kannst ja schon mal unser Abendessen bestellen, ich bleibe nicht lange.«
»Du solltest jetzt eine Kleinigkeit essen«, sagte Nell hartnäckig. Sie nahm den Deckel von der Keksdose. »Lass uns doch mal sehen, was Mrs Burweed …« Nell sprach nicht weiter, sondern blickte sprachlos in die offene Dose.
»Was ist denn los?«, fragte ich. »Es sind Baisers, nicht wahr?«
Langsam schüttelte Nell den Kopf, in ihren blauen Augen war ein fast komischer Ausdruck der Verwirrung. »Geralds Vater muss deine Mutter gekannt haben, Lori. Ich glaube, das hier sind Karamellbrownies.«
»Mach keinen Quatsch«, sagte ich. »Das kann doch auf keinen Fall …«
»Probier mal«, sagte Nell und hielt mir die Dose hin.
Ich nahm eines und biss hinein. Es war feucht und von weicher Zähigkeit, jedoch gleichzeitig etwas körnig, mit einem Hauch von Vanille und einer guten Portion Rohrzucker – zu meiner grenzenlosen Verwirrung waren Thomas Willis’ Brownies identisch mit denen, die ich heute Morgen gebacken hatte.
»Vielleicht war Thomas Willis im Krieg in London«, vermutete ich.
»Das müssen wir Gerald fragen, wenn wir ihn das nächste Mal sehen«, sagte Nell.
Was nicht so bald geschehen wird, wenn es nach mir geht, dachte ich. Ich legte das angebissene Brownie auf den Tisch und verließ das Zimmer.
Es ist seltsam, eine unbekannte Stadt in der Abenddämmerung zu sehen. Man kann keine Farben unterscheiden, alle Linien erscheinen weich, und scharfe Kanten werden undeutlich, wie in einer verwischten Bleistiftzeichnung. Der Verkehrslärm auf der Hauptstraße war bis auf ein gelegentliches Auto abgeklungen, und die wenigen Fußgänger, denen ich begegnete, sahen aus, als ob sie sich beeilten, zu ihrem Abendessen nach Hause zu kommen. Niemand blieb vor einem der schwach beleuchteten Schaufenster stehen.
Dank der Straßenlaternen gelang es mir ohne Probleme, den Weg zu finden, den Miss Coombs auf der Karte eingezeichnet hatte. Als ich aus dem Hotel getreten war, wandte ich mich nach links, bis ich zu einem schmalen Fußweg kam, einer gepflasterten Gasse zwischen zwei hohen Mauern, die hinter einer Reihe von Gärten entlangführte.
Außer mir ging kein Mensch hier, und mich überkam ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit und Einsamkeit. Ganz in der Nähe hörte ich Stimmen – die Unterhaltung von Familien, die in der kühlen Abendluft noch draußen zusammensaßen –, aber ich sah niemanden.
Sowie ich das Hotel verlassen hatte, war mir ein weiteres Geräusch aufgefallen, das den Stadtplan fast überflüssig gemacht hätte. Es war das Läuten von Kirchenglocken, und je mehr ich mich St. Bartholomäus näherte, desto lauter wurde es. Als die Dämmerung in völlige Dunkelheit überging, fing das Läuten erneut an, es ging etwas durcheinander und wurde unterbrochen, um gleich darauf weitaus harmonischer wieder einzusetzen. Es klang, als ob die Glöckner von St. Bartholomäus ihre Übungsstunde hätten. Als ich auf dem Fußweg schließlich das Friedhofstor erreicht hatte, waren die Glocken jedoch verstummt. Die Probe war für heute beendet.
Ich trat durch das Tor des Friedhofs, stand dann an der Längsseite der Kirche und sah nach oben.
Die Außenwände waren ein Mischmasch aus rauen Steinmauern und Rundbögen, am hinteren Ende war ein gedrungener, viereckiger Glockenturm und an der einen Seite führte ein ziegelgedeckter Vorbau aus Holz zum Kirchenportal. Auf dem Friedhof waren überwiegend sehr alte Gräber, und als ich mich bückte, um mir einen der flechtenbewachsenen Grabsteine näher anzusehen, wurde die Seitentür geöffnet und im Licht, das aus dem Inneren der Kirche strömte, sah ich die Glöckner schwatzend und lachend in den Vorbau hinaustreten. Ich blieb im Dunkeln stehen und beneidete sie um ihre Kameradschaft. Schließlich ging das Licht in der Kirche aus und ein untersetzter Mann mittleren Alters, den ich an seinem steifen weißen Kragen als Pfarrer erkannte, kam heraus und rasselte mit einem großen
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