Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
an.
»Willis senior bist du nicht egal«, flüsterte ich.
Dessen konnte ich mir sicher sein. Aber von meinem Mann konnte ich das nicht mehr sagen.
Als ich aus dem Badezimmer kam, war Nell schon am Packen. Sie sah mich aufmerksam an, dann fragte sie: »Was ist denn gestern Abend passiert?«
»Das erzähle ich dir in der Bahn«, sagte ich kurz.
»In der Bahn?«
»In der Bahn.«
Mir war nicht nach einem Wettstreit im Erröten mit Miss Coombs zumute – mein illegales Têteà
Tête mit Gerald nagte noch immer an meinem Gewissen, deshalb verließen wir das Georgian durch den Garten, ohne Gepäck, bis auf den Aktenkoffer.
Ich würde die Rechnung mit meiner Kreditkarte begleichen und Miss Kingsley bitten, unsere Koffer nachschicken zu lassen.
Ich würde sie auch bitten, dafür zu sorgen, dass jemand das Auto abholte. Ich dachte an mein Versprechen, das ich Derek gegeben hatte, in London nicht selbst zu fahren, also ließen wir den Mini auf dem Bahnhofsparkplatz in Haslemere und stiegen in den Zug um neun Uhr fünfundzwanzig nach Waterloo. Die Abteile waren voll von Pendlern, aber Nell hatte mit Mr Digbys Tochter am Fahrkartenschalter gesprochen und uns ein Einzelabteil gesichert, außerdem zwei Styroporbecher Tee mit viel Milch und Zucker.
Nell hatte ihr schwarzes NicoletteKostüm gegen ein ärmelloses hellblaues Kleid vertauscht, zu dem sie eine weiße Leinenjacke und weiße Schuhe trug, dazu eine weiche weiße Umhängetasche aus Leder. Sie hatte Bertie einen blauweißen Matrosenanzug angezogen und auch für mich eine ähnlich sommerliche Kleidung ausgesucht, ich jedoch hatte mich wieder für die hässlichen Tweedsachen entschieden. Von allem, was sie gepackt hatte, kam das einer Trauerkleidung am nächsten.
In ihrem hübschen blauen Kleid, Bertie im Arm und mit Reginalds rosa Flanellohren, die aus ihrer Umhängetasche lugten, bot Nell ein Bild goldlockiger Unschuld, als wir unser Abteil aufsuchten.
Sobald ich aber die Tür zugemacht hatte, verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck in den eines Lö wenbändigers.
»Iss«, befahl sie, indem sie in ihre Tasche griff und mir die runde Keksdose von Gerald reichte.
Ich sah die Dose an und fühlte, wie mein Hals sich zuschnürte.
»Du hast gestern Abend nichts gegessen und heute Morgen nicht gefrühstückt, du hast kein Wort gesprochen, seit wir das Georgian verlassen haben, und du bist blass wie ein Grießpudding«, predigte sie energisch. Sie nahm Reginald aus ihrer Tasche und setzte ihn neben Bertie auf den kleinen Tisch unter dem Fenster, damit sie hinaussehen konnten. »Wenn du jetzt nicht sofort etwas isst, Lori, rufe ich Papa an, sobald wir in London sind, und sage ihm, dass du nicht imstande bist, die Reise fortzusetzen. Reginald besteht darauf. Er macht sich große Sorgen um dich.«
Ich konnte Reginalds Gesicht nicht sehen, aber ich sah daran, wie seine Ohren hochstanden, dass er durch mein Verhalten verstört war. Widerwillig brach ich ein kleines Stück von einem der Brownies ab, steckte es in den Mund und spülte es mit Tee hinunter. Nell sah mit verschränkten Armen zu, bis ich das ganze Brownie und noch zwei weitere gegessen hatte, dann befahl sie mir, außer meinem Tee auch den ihren zu trinken. Als ich auch das geschafft hatte, nahm sie die Arme auseinander, angelte sich Bertie und aus der knallharten Erpresserin wurde wieder ein zwölfjähriges Kind.
»Geht’s dir jetzt besser?«, fragte sie.
Erst jetzt wurde mir schockartig klar, wie sehr ich Nell geängstigt haben musste. Ich hatte keinen Augenblick daran gedacht, dass meine emotionale Achterbahnfahrt jemanden, der so in sich ruhte wie Lady Eleanor Harris, völlig verwirren und zutiefst beunruhigen musste. Ihre VergissmeinnichtAugen waren noch größer als sonst und sie hielt Bertie so fest umklammert, dass seine Füllung sich unter der Matrosenbluse wölbte. Beschämt streckte ich die Hand aus, um die ihre zu streicheln. »Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen«, log ich.
Eigentlich hatte ich besser geschlafen als die ganzen letzten Monate, trotz einiger lebhafter Träume, die eine verheiratete Frau eigentlich zum Errö ten bringen müssten. »Ich bin immer schlecht gelaunt, wenn ich nicht genug geschlafen habe. Und vermutlich kriege ich dieses Herumrennen auch langsam satt.«
»Tut es dir Leid, dass du Bertie und mich mitgenommen hast?«, fragte Nell ernst.
»Du lieber Himmel, nein, Nell, kein bisschen«, rief ich aus. »Ihr wart beide großartig. Es ist nur …« Ich seufzte.
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