Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
»So hatte ich mir meine zweite Hochzeitsreise nicht gerade vorgestellt.«
Nell lockerte ihren Griff, mit dem sie Bertie hielt, aber sie blieb ernst. »Es ist nicht leicht, verheiratet zu sein«, sagte sie altklug. »Ich bin die Einzige in meiner Klasse, deren Eltern noch im selben Haus zusammenleben. Außer Petra de Bernouilles, aber sie ist katholisch und die dürfen sich nicht scheiden lassen. Lässt du dich von Bill scheiden?«
»Nell! Was für eine Idee!« Ich tat die Frage mit einem munteren Lachen ab, dachte aber insgeheim, dass es vielleicht besser wäre, wenn mein eigenes zwölfjähriges Kind, so ich denn einmal eines haben sollte, nicht ganz so scharfsinnig werden würde wie Nell. »Ich gebe ja zu, dass ich enttäuscht bin, dass Bill diese Reise nicht mit mir machen konnte, aber was ist schon eine Reise?«
»Wann ist er denn das letzte Mal mit dir gekommen?«, fragte sie.
»Das letzte Mal? Das war … Jetzt haben wir August, ja?« Ich legte den Kopf nonchalant auf die Seite und sah nachdenklich vor mich hin. »Vor einem Jahr«, sagte ich schließlich. »Bill war letzten August hier. Wir waren ein paar Tage in London und eine Woche in unserem Haus. Es war herrlich.«
»Ein Jahr«, sagte Nell.
»Das ist doch gar nichts«, sagte ich, und ehe Nell bemerken konnte, dass es eigentlich die Hälfte meiner Ehezeit bedeutete, hatte ich das Thema gewechselt. »Übrigens, ehe ich’s vergesse – hat Bertrand noch ein paar deftige Klatschgeschichten von den Zimmermädchen gehört?«
»Nichts Neues.« Nell rückte Berties bebänderte Matrosenmütze gerade. »Sie sind alle völlig verrückt nach Gerald, aber das scheint auf die halbe Stadt zuzutreffen. Hast du etwas Neues erfahren?«
»Gerald hat versprochen, zu tun, was er kann, um William davon abzuhalten, aus Boston wegzugehen«, erzählte ich, »aber ich glaube nicht, dass er viel ausrichten kann. Er sagt, er hat die Juristerei an den Nagel gehängt.«
»Glaubst du ihm das?«
»Ich glaube ihm«, erwiderte ich. »Ich bin mir ziemlich sicher, und wenn du gestern Abend sein Gesicht gesehen hättest, Nell, dann würdest du es auch glauben. Ich weiß nicht, warum Tante Dimity erwartet hat, dass er mich anlügen würde.«
»Vielleicht, weil sie gehört hatte, wie er William wegen der anderen Sache angelogen hat«, meinte Nell. »Der ›Streit, der vor so langer Zeit passierte‹.
Ich habe da übrigens eine Vermutung.«
»Auf die bin ich gespannt«, sagte ich. Ich war froh, Nell und mich selbst von allen Gedanken an Bill und eine Scheidung abzulenken.
Nell sah hinaus auf die neu gebauten Wohngebiete, die sich in der ländlichen Umgebung breit machten. »Gestern«, sagte sie, »als ich mich in den ›Lärchen‹ ein bisschen umsah, öffnete ich die Tür zu einer Art Lagerraum und sah etwas Fantastisches, ein Kreuz aus Gold, und ganz mit Edelsteinen besetzt.«
Ich nickte. »Man nennt das ein Reliquiar, ich habe es auch gesehen. Ich ging aus Versehen in den Raum und da stand es und funkelte mich an.« Ich schwieg, die Erinnerung an Geralds Atem auf meiner Hand, als er sich über meinen verletzten Finger gebeugt hatte, lenkte mich ab. »Gerald sagte, dass das Reliquiar Teil einer Sammlung ist, die er für jemanden katalogisiert …« Ich runzelte die Stirn, ich konnte mich an seine genauen Worte nicht mehr erinnern.
»Für wen?«, fragte Nell.
»Einen privaten Sammler oder vielleicht für ein Museum, denke ich.« Ich zuckte die Schultern.
»Gerald hat keinen Namen erwähnt.«
»Hmmm«, machte Nell und sah weiterhin aus dem Fenster.
»Was denkst du, Nell?«
»Ich denke, dass das Reliquiar sehr viel wert sein muss.« Nell sah mich an. »Eine Riesensumme.«
Ich sah sie ebenfalls an, beklommen. Der schlechte Zustand des Hauses hatte mich Geralds Vermögen ganz vergessen lassen, und ich hatte seinen Besitz des Goldkreuzes nie angezweifelt.
»Sprich weiter«, sagte ich.
»Was wäre, wenn das Reliquiar – und alles andere in diesem Raum – dem amerikanischen Zweig der Familie Willis gehörte? Wenn Gerald versuchen sollte, William um sein rechtmäßiges Eigentum zu bringen?«
Könnte das Reliquiar der schlafende Hund sein, vor dem Dimity uns gewarnt hatte? Mir fielen mehrere gute Gründe ein, warum es in Geralds Interesse sein könnte, die Existenz dieses wertvollen Erbstücks zu unterschlagen: Seine Familie könnte es als Sicherheit für ein Bankdarlehen benutzt haben, er könnte es verkaufen wollen oder hatte es sogar bereits verkauft. Auf jeden Fall
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