Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
wäre es nicht wünschenswert, dass der rechtmäßige Eigentümer plötzlich auftauchte und seine Ansprüche geltend machte.
»Es ist eine Möglichkeit«, gab ich zu. »Ich werde Emma bitten, im Internet noch weiter nach Spuren zu suchen, nach solchen, die auf einen Erbschaftsstreit hinweisen. Obwohl ich mir immer noch nicht vorstellen kann, warum es William ausgerechnet gestern Vormittag eingefallen sein sollte.«
Nell klopfte auf die runde Dose. »Hast du daran gedacht, Gerald wegen der Karamellbrownies zu fragen?«
Ich griff mir an die Stirn. »Total vergessen.«
»Macht nichts«, sagte Nell mit einem zufriedenen kleinen Lächeln. »Ich habe ihn gefragt, als er im Hotel vorbeikam.«
»Zehn Punkte für dich.« Ich machte eine Verbeugung und freute mich, dass sie wieder lachte.
»Und was hat er gesagt?«
»Thomas Willis war im Krieg nicht in London«, erklärte Nell. »Er war zu jung. Er ist erst dreiundsechzig.«
»Also war er 1945« – ich sah an die Decke und rechnete – »zwölf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Junge in deinem Alter im kriegsgebeutelten London sich für Rezepte interessiert, oder?«
»Mein Bruder«, sagte Nell mit Bestimmtheit, »wäre viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Bombenkrater zu untersuchen.«
Ich nickte zustimmend, aber meine Gedanken waren bereits woanders. Ich öffnete die Aktentasche und nahm die Liste mit den Namen heraus, die Miss Kingsley mir genannt hatte, die dramatis personae der Familie Willis. »Thomas Willis ist dreiundsechzig, und er ist der Älteste der älteren Generation hier in England. Das bedeutet, dass sie alle jünger als William sind. Thomas ging wegen eines Herzleidens in den Ruhestand, aber was ist mit den anderen beiden – Anthea und Williston?
Gerald sagte mir, dass seine Cousine Lucy seit seinem Ausscheiden unter chronischer Überlastung leidet. Ich frage mich, warum Anthea und Williston nicht zurückgekommen sind, um ihr zu helfen?«
Nell steckte die Dose wieder in ihre Tasche und faltete die Hände auf dem Tisch, ihre Augen glänzten. »Ich freue mich schon darauf, mit Lucy Willis zu sprechen, du auch?«
»Ganz bestimmt.« Ich winkte triumphierend mit der Liste. »Dieser Zweig der Familie wird von Minute zu Minute interessanter.« Ich lachte und Nell kicherte, aber als ich die Liste wieder in die Tasche steckte, konnte ich mich des verräterischen Gedankens nicht erwehren, ob Dimity mir meinen Mann nicht vielleicht auf der falschen Seite des Atlantiks ausgesucht hatte.
13
EIGENTLICH WOLLTE ICH ein Taxi vom Bahnhof Waterloo zu Lucy Willis’ Kanzlei nehmen, aber das erwies sich als unnötig. Sowie Nell und ich aus dem Zug stiegen, winkte uns ein kleiner weißhaariger Mann hinter der Absperrung.
»Guten Morgen, Madam! Hatte gar nicht erwartet, Sie so schnell wiederzusehen. Und wenn das nicht Lady Eleanor ist! Sie sehen ja wieder bildschön aus, Mylady. Nanny Cole werden diese Kleider bestimmt aus der Hand gerissen werden, wenn man Sie erst mal darin gesehen hat. Master Bertram geht’s gut, hoffe ich? Ach, und Sie haben Master Reginald auch mitgebracht, wie ich sehe.«
»Paul!«, rief ich aus. Paul, dessen Zuname – falls er denn einen besaß – ich nie erfahren hatte, war der befreundete Chauffeur, der Willis senior und mich zu meinem Haus gebracht hatte, nachdem wir in London übernachtet hatten. Er arbeitete für Miss Kingsley, aber ich hatte keine Ahnung, wie er erfahren hatte, wann wir in Waterloo ankommen würden.
»Ein Vergnügen, auch Sie zu sehen, Madam.«
Paul legte zwei Finger an seine dunkelblaue Mütze, dann winkte er einem Gepäckträger, der zu meinem Erstaunen meinen und Nells Koffer auf einem Gepäckwagen den Bahnsteig entlangschob.
Ich drehte mich um und sah Lady Eleanor an, die gerade Reg und Bertie in ihre Umhängetasche setzte. »Nell?«
Sie lachte. »Der liebe Mr Digby! Er hat unsere Koffer im Hotel abgeholt und zum Zug gebracht, genau wie ich ihn gebeten hatte. Und seine Tochter war auch so nett. Sie sagte, ich erinnere sie an ihre Nichte, und als ich sie bat, das Flamborough anzurufen und mit Paul zu sprechen …«
»Hat sie sich sofort darangemacht«, ergänzte Paul. »Miss Kingsley hat jemanden hingeschickt, der Ihr Auto nach Finch zurückfahren wird, und ich stehe Ihnen zur Verfügung, solange Sie mich brauchen, Madam.« Paul hatte die Frage, wie er eine verheiratete Frau nennen sollte, die nicht den Namen ihres Mannes angenommen hatte, für sich gelöst, indem er mich nur mit
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