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Tante Dimity und der unerhoerte Skandal

Tante Dimity und der unerhoerte Skandal

Titel: Tante Dimity und der unerhoerte Skandal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Atherton
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Holzbank, die im Schatten einer riesigen Eiche stand. Es war ein gutes Gefühl, einen Augenblick still dazusitzen und die Gedanken schweifen zu lassen. Meine Mutter hätte das, was ich gerade erlebt hatte, zwei ereignisreiche Tage genannt, an denen mehr emotionale Kraft von mir gefordert worden war, als ich eigentlich in Reserve hatte. Vielleicht, so dachte ich, während ich mich bückte, um eine Eichel aufzuheben, vielleicht war jetzt nicht gerade der beste Zeitpunkt, über eine Entscheidung nachzudenken, die den Rest meines Lebens bestimmen würde.
    Ich rollte die Eichel zwischen meinen Fingern hin und her und sah über den Rasen. Bill und ich hatten einmal unter einer Eiche gesessen, es war in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft gewesen, auf einem Berg, von dem aus man ein friedliches Tal überblickte. Damals war ich ein hoffnungsloser Fall gewesen, fast genauso gelähmt vor Schmerz und Schuldgefühl wie Onkel Williston. Jeder andere Mann hätte mindestens eine Armlänge Abstand zu mir gehalten, aber Bill hatte mich an sich gezogen. Er hatte mich praktisch durch eine der schwierigsten Zeiten meines Lebens getragen.
    Vielleicht, so dachte ich, indem ich die Eichel in die Tasche meiner Jeans steckte, vielleicht war es wirklich etwas übereilt, meinen Mann schon abzuschreiben. Schließlich hatte ich ihn mitten in der Nacht geweckt, und es war nicht ganz fair, sofortiges Mitgefühl von jemandem zu erwarten, der einen verletzten Daumen hatte und benommen von Schmerzmitteln war. Und außerdem wäre es niederträchtig, mich wie Sybil zu benehmen und ihn ohne ein Wort der Erklärung zu verlassen.
    Ich würde ihn noch einmal anrufen, beschloss ich, und diesmal würde er mich nicht unterbrechen. Ich würde ihm ganz genau sagen, was ich von den Biddifords hielt, und von seinen Tanten und von seiner egoistischen Weigerung, über unsere Zukunft zu sprechen. Und dann würde ich ihm sagen, dass er, wenn ihm an einer Zukunft mit mir noch etwas gelegen sei, so schnell wie möglich ein Flugzeug nach England nehmen solle, oder ich …
    »Missy!«
    Ich schreckte aus meinen lebhaften Träumen hoch. Hatte mich jemand ›Missy‹ gerufen?
    »Pssst.«
    Das kam von irgendwo hinter mir. Langsam drehte ich mich um und sah in das runzlige Gesicht eines kleinen alten Mannes, der halb hinter dem Stamm der Eiche verborgen war.
    »Hierher«, flüsterte er laut, wobei er mir mit seiner mageren, krallenartigen Hand winkte.
    Ich blickte über den Rasen und suchte nach Aufsehern, aber der nächste war fast zehn Meter entfernt, und Sir Poppet, Nell und Bertie drehten mir den Rücken zu. Ach was, dachte ich, der Typ sieht eher wie ein Gnom als wie ein Serienmörder aus, und außerdem hatte Sir Poppet gesagt, dass in Cloverly House keine gefährlichen Patienten aufgenommen wurden.
    Ich stand also auf und trat hinter die Eiche. Der Gnom trug einen blauen Overall und Arbeitsstiefel.
    Er war kahlköpfig, sehr mager und winzig klein.
    Ich war selbst zwar nur eins zweiundsechzig groß, aber neben dem Gnom fühlte ich mich wie ein Riese. Sein Gesicht war tief braun gebrannt und faltig, und es war nicht zu übersehen, dass er an diesem Tag seine Zähne nicht trug.
    »Hi«, sagte ich.
    »Schsch«, antwortete er. Er schaute verstohlen über seine Schulter, dann sah er zu mir hoch. »Sie sind doch Shepherd, oder?«
    »Hmhm«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Ich bin Lori Shepherd.«
    Der Gnom kam etwas näher, und mit ihm eine Duftwolke aus Babypuder, Flieder und einem überwältigenden Schwall Motoröl. »Hab was für Sie«, sagte er im Bühnenflüstern.
    »So?«, sagte ich, und ehe ich mich’s versah, zog er Tante Dimitys blaues Tagebuch aus der Tasche seines blauen Overalls, drückte es mir in die Hand und huschte in Richtung der Treppe von Cloverly House davon.
    » Dimity «, flüsterte ich und sah ungläubig auf das Tagebuch. Ich sah zum Gnom hinüber und rief ihm hinterher, dass er warten solle. »Es tut mir Leid, wenn ich Sie aufhalte«, sagte ich, »aber wie
    …«
    »Fand es beim Eimer, als ich’s Klo putzte«, erwiderte er. »Auf dem Zettel stand, ich soll es Ihnen geben, aber unauffällig. Hier, stecken Sie es unter den Pullover, sonst sieht’s der Chef.« Er wartete, bis ich das Tagebuch unter meinen Hosenbund geschoben und den Pulli darüber gezogen hatte.
    Dann reckte er das Kinn in Richtung Sir Poppet.
    »Jetzt gehn Sie schon, Missy.«
    Ich zog mich zurück, wobei ich fast erwartete, dass der kleine Mann mit einem Puff und einer Rauchwolke

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