Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
verschwinden würde. Als er das Kinn ein zweites Mal in dieselbe Richtung bewegte, drehte ich mich um und ging zu Sir Poppet hin über, der etwa zehn Meter entfernt stand.
»Arbeitet dieser Mann für Sie?«, fragte ich und deutete auf den Gnom.
»Das ist Cyril«, erwiderte Sir Poppet. »Er macht hier alle möglichen Aushilfsarbeiten. Er wird alt, ist aber immer noch sehr geschickt. Während des Krieges arbeitete er als Mechaniker in Biggin Hill.
Er ist sogar bei der großen Luftschlacht mitgeflogen. Wenn er erzählt, könnte ich stundenlang zuhören.«
»Ich auch«, murmelte ich wie benommen, während die winzige Gestalt durch die Eingangstür verschwand.
20
AM NACHMITTAG RIEF Paul an und bat um Erlaubnis, über Nacht in London zu bleiben. Mein Freund im Britischen Museum hatte noch keine Zeit gehabt, mehr als einen flüchtigen Blick auf die Urkunde zu werfen, würde aber versuchen, sich gegen Abend noch eingehend damit zu beschäftigen, so dass Paul früh am darauf folgenden Morgen London verlassen könnte. Also stimmte ich zu und nahm Sir Poppets Einladung an, eine weitere Nacht in seinem Haus zu verbringen. Ich hatte es geschafft, das blaue Tagebuch unbemerkt in Onkel Willistons Olivenholzkästchen verschwinden zu lassen, hatte aber keine Gelegenheit, es zu öffnen, bis Reginald und ich nach dem Abendessen allein in meinem Zimmer waren.
Ich saß im Schneidersitz auf dem Bett, Reginald neben mir auf dem Kopfkissen. In meinem Hals steckte ein Riesenkloß. Würde Tante Dimity antworten, wenn ich sie rief, oder würden die Seiten wieder so hartnäckig leer bleiben wie nun schon seit zwei Jahren? Ich öffnete das Buch, räusperte mich und rief: »Dimity? Hörst du mich?«
Ich glaube , dass sogar Emma zu Hause dich hö ren kann . Du musst leiser sprechen , meine Liebe .
Sir Poppet hätte ganz bestimmt eine Bezeichnung für unsere kleinen Plaudereien , aber ich denke , keine sehr schmeichelhafte .
Ich hielt die Hand vor den Mund, um mein fast hysterisches Gelächter zu unterdrücken, als die vertraute, schnörkelige Kursivschrift auf der Seite erschien. Tante Dimity war zurück und die Welt wieder in Ordnung. Oder sie würde es jedenfalls bald wieder sein.
»Dimity, was machst du hier?«, fragte ich in einem tapferen Versuch, nicht als Erstes an mich selbst zu denken. »Warum hast du William seinem Schicksal überlassen?«
Ich glaube nicht , dass Anthea sehr bedrohlich für ihn sein kann , was meinst du? Dort oben auf der Cobb Farm , wo sie ganz allein in der Nähe des verschlafenen kleinen Lastingham lebt . Ich muss auch gestehen , dass mir diese Existenz als blinder Passagier nicht zusagt . William ist ein lieber Kerl , aber es ist geradezu beängstigend , wie er seine Gedanken für sich behalt . Du dagegen … ach , du hast mir gefehlt , Lori .
»Du hast mir auch gefehlt«, sagte ich inbrünstig.
»Wo bist du nur gewesen?«
Du magst deine zweiten Flitterwochen erleben – was für ein reizender Einfall übrigens ! – , aber ich habe gerade meine ersten hinter mir . Bobby und ich hatten ja nie Gelegenheit dazu , weißt du .
»Oh«, sagte ich, völlig erschlagen von dem Gedanken an zwei Jahre lange Flitterwochen. »Das klingt wunderbar.«
Außerdem nahm ich an , dass ihr sicher einige Zeit allein sein wollt , um euch an das Eheleben zu gewöhnen . Nichts ist schlimmer für eine junge Ehe als eine alte Tante , die aus der Kulisse ihren Senf zu allem und jedem gibt . Entschuldige die Frage , Lori , aber ist es inzwischen Mode geworden , dass eine Braut ihre zweiten Flitterwochen ohne den Bräutigam verbringt?
»Nein«, gab ich bedrückt zu. »Bill sollte auch mitkommen, aber er hatte eine dringende Arbeit zu erledigen und musste seine Reise abblasen.«
Es folgte eine lange Pause; dann las ich: Lori?
Gibt es in deiner Nähe ein Telefon? Wenn ja , würdest du bitte SOFORT deinen Mann anrufen?
Wenn du nicht weißt , was du sagen sollst , dann gebe ich dir mit Vergnügen einige Tipps .
»Ich kann ihn nicht erreichen«, erklärte ich. »In Maine hat es einen Sturm gegeben, und die Stromversorgung ist unterbrochen.«
Das wird ihm hoffentlich eine Lehre sein ! Du liebe Zeit , mir scheint , du könntest doch eine Souffleuse hinter der Kulisse gebrauchen . Unverantwortlich von mir , so lange wegzubleiben . Niemand weiß besser als ich , dass auf dem Weg der wahren Liebe der Bescheidenere immer am teuersten bezahlt . Die Handschrift hielt einen Moment inne, dann floss sie weiter aufs Papier. Lori? Es tut
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