Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
Ihr Kind leidet und Sie nicht wissen, warum.« Seine Finger tasteten nach dem Gipsverband an Bills Arm. »Gebrochene Knochen heilen, und gebrochene Herzen auch, solange sie gut gepflegt werden.
Aber wenn man nicht weiß, wo es fehlt, dann kann man gar nichts machen. Hilflos zu sein, wenn das eigene Kind leidet, ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann.«
Schwester Watling legte ihr Buch hin, goss Wasser in das Glas und brachte es Tom. Sie half ihm beim Trinken, stopfte die Decken wieder fest und stand einen Moment unschlüssig da, wie um zu entscheiden, ob er fähig sei, weiterzureden. Dann nahm sie die ramponierte alte Giraffe vom Tisch und steckte sie zwischen die Decken auf Toms Schoß.
»Meine gute alte Geraldine«, sagte Tom, wobei er langsam und gleichmäßig atmete, »wir haben viel erlebt, nicht wahr, altes Mädchen?«
Schwester Watling setzte sich wieder, ließ aber das Buch auf dem Tisch liegen und behielt ihren Schützling im Auge.
»Gerald kommt mich jeden Monat besuchen«, fuhr Tom fort. »Er bringt mir immer ein schönes neues Buch für meine Bibliothek mit, manchmal sogar eine seltene Ausgabe. Wir unterhalten uns über die ShuttleworthSammlung, über die Familie, über meine Gesundheit – aber über Gerald sprechen wir nie. Ich weiß, dass mein Sohn leidet, und ich würde alles darum geben, wirklich alles, um zu erfahren, was ihn quält.«
Ich fasste Bills Hand fester und fragte mich, ob Onkel Tom Willis senior dasselbe Geständnis gemacht hatte. Hatten die beiden Männer hier unter dem blauen Sommerhimmel zusammengesessen und sich gegenseitig erzählt, wie ihre pflichtbewussten Söhne ihnen das Herz brachen?
»Vielleicht will er Sie nicht beunruhigen«, gab ich zu bedenken.
Tom dachte einen Augenblick nach, ehe er meine Antwort zurückwies. »Es ist das Vorrecht eines Vaters, sich um seinen Sohn Sorgen zu machen.
Welches Recht hat er, mir das zu nehmen?«
»Das Recht, das jeder Sohn hat, seinen Vater zu schonen«, sagte Bill und sah auf seinen Gipsarm.
»Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass diese beiden Rechte oft miteinander im Konflikt liegen.«
»Tatsächlich?«, sagte Tom. »Davon müssen Sie mir mal erzählen, vielleicht lerne ich etwas daraus.«
»Mr Willis«, sagte Nell, »wissen Sie etwas von der Frau, mit der Gerald sich in London trifft?«
Ich drehte mich stirnrunzelnd zu ihr um. »Jetzt nicht, Nell.«
»Nein, nein«, wehrte Tom ab. »Lassen Sie das Kind sprechen.« Er rückte sich in seinem Kokon aus Decken etwas zurecht, um Nell besser sehen zu können. »Ja, Arthur hat von ihr gesprochen. William übrigens auch, fällt mir jetzt ein. Ich muss gestehen, dass sie eigentlich nicht der Frauentyp zu sein scheint, der meinem Sohn gefällt.«
»Erinnern Sie sich an die Ärztin, mit der Douglas sich eingelassen hatte?«, fragte Nell. »Die ihm all diese Tabletten gab?«
»Wie könnte jemand Sally die …« Tom unterbrach sich, und auf seinem Gesicht breitete sich plötzlich derselbe Ausdruck des Verstehens aus wie bei Lucy. Er schloss die Augen und lehnte sich in die Kissen zurück. »Erpressung«, sagte er nach einer Weile mit kaum hörbarer Stimme. »Das muss es sein.«
»Das denken wir auch«, sagte ich. »Wir hatten gehofft, Sie wüssten etwas darüber.«
»Ich muss mal nachdenken«, sagte Tom. »Lassen Sie mich nachdenken …« Eine zerbrechliche Hand kam unter den Decken hervor und streichelte Geraldines verdrehten Hals. »Er sagte … er ist … wegen Fehlern … aus der Firma ausgeschieden.«
»Swann meinte, das sei Unsinn«, sagte ich.
»Richtig«, stimmte Tom zu, und der Gedanke schien ihn aufzubauen. »Gerald hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen.«
Nell wickelte eine ihrer blonden Locken um den Finger und sah über den samtig grünen Rasen. »Es ist Arthur, der die Fehler macht«, sagte sie nachdenklich.
Die blasse Hand erhob sich über Geraldines Ohren in die Luft. »Das ist es!« Tom stieß diese Worte so vehement aus, dass Schwester Watling aufsprang.
»Ich glaube, wir machen eine kleine Pause«, sagte sie und bedeutete uns, zu schweigen. »Also, Mr Willis, Sie wissen, wie ich mich freue, wenn Ihnen etwas Freude macht, aber Sie müssen mit Ihren Kräften haushalten, oder ich muss Ihre Besucher bitten, sich zu verabschieden.« Mit diesen Worten zog sie die Sauerstoffmaske über Toms Gesicht und drehte an den Knöpfen. »Ganz ruhig jetzt, Mr Willis. Schön gleichmäßig atmen.«
Während Schwester Watling noch mit beruhigender
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