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Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief

Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief

Titel: Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Atherton
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ich die Schreibplatte des Zylinderpults auf. Behutsam platzierte ich die Tasche auf der Schreibunterlage aus grünem Leder, und erst jetzt, da das Pult keinerlei Anstalten machte zusammenzubrechen, gestattete ich mir wieder auszuatmen.
    Ruhiger geworden, begann ich nun, Dinge wahrzunehmen, die ich in meiner anfänglichen Benommenheit gar nicht bemerkt hatte. Plötzlich hörte ich die gedämpften Verkehrsgeräusche von der Travertine Road, das Dröhnen einer Hupe, den gegen die Fensterscheiben prasselnden Regen. Und ich bemerkte auch den leicht abgestandenen, muffigen Geruch, nachdem hier zu lange nicht gelüftet worden war.
    Ich schob den exquisiten zweiteiligen Paravent zur Seite und öffnete die Glastür zum Balkon.
    Mein erster Blick ging nach oben. Der trübe Himmel verriet keinerlei Anzeichen von Aufheiterung, doch vorerst hatte es wenigstens aufgehört zu regnen. Ich trat ganz hinaus, die offene Balkontür in meinem Rücken.

    Die kalte, feuchte Luft war eine Wohltat nach der schalen Atmosphäre in der Wohnung, und der Blick vom Balkon ging erstaunlich weit. Auch wenn Miss Beachams Haus nur vier Stockwerke hoch war, schien es seine Nachbarn zu überragen.
    Und hätte der Dunst nicht den Horizont eingehüllt, hätte ich weit draußen im Südosten vielleicht sogar die traumhaften Türme der Universität sehen können. So aber hatte ich einen Kirchturm eine Straße weiter vor Augen und konnte das geschäftige Treiben in der Travertine Road aus der Vogelperspek-tive überblicken – eine Frau, die mit einer rosa Einkaufstüte in der Hand aus einer Boutique kam; ein Kellner mit weißer Schürze, der sich vor der Tür eines indischen Restaurants eine Zigarettenpause gönnte; ein Mann, der einen Sack Vogelfutter aus einer Zoohandlung schleppte; und Autos, haufenweise Autos, die in halsbrecherischem Tempo vorbeirauschten.
    »Wer braucht einen Fernseher, wenn er dem Leben zuschauen kann?«, murmelte ich. Eine Weile betrachtete ich noch die bunte Szene, bis mich der nasskalte Wind wieder nach innen trieb. Noch einmal sah ich mich im Wohnzimmer um. Nach den Eindrücken vom geschäftigen Treiben in der Travertine Road wirkte es jetzt wie ein Stillleben auf mich.

    Das hier war so ganz anders als mein eigenes Wohnzimmer. Bill hatte es einmal so charakterisiert: Ich hatte viele schöne Dinge von Tante Dimity geerbt, aber das Cottage hatte schon lange aufgehört, das ihre zu sein. Im Laufe der Jahre hatte meine Familie ihre eigenen Spuren hinterlassen –
    im Falle der Zwillinge sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Es spiegelte unsere Leidenschaften wider, aber auch unser Verhältnis zueinander und zur Welt jenseits seiner Steinmauern. Die Tische im Wohnzimmer waren mit gerahmten Fotos von Angehörigen und Freunden übersät; die Bank vor dem Fenster war die reinste Arche für Stofftiere; und der Kaminsims diente als Anschlagbrett, das regelmäßig mit hastig von Bill und mir vollgekritzelten Zetteln zugeklebt war, mit denen wir uns gegenseitig von Gängen zum Bäcker bis hin zu Zahnarztterminen an so ziemlich alles erinnerten.
    Keine Frage, wertvoll und schön waren die Gegenstände in Miss Beachams Salon, und doch fehlte hier etwas. Wo waren die Fotos von ihrem Bruder, ihren Eltern, ihren Freunden? Wo waren die billigen Souvenirs, die sie nach Ferien am Meer heimgeschleppt hatte? Wo waren die mit Telefonnummern und Einkaufslisten vollgeschmierten Notizblöcke? Wo war das unvermeidliche Durcheinander des Alltagslebens?

    Ich durchforstete die unzähligen Schubladen und Fächer des Zylinderpults – sie waren alle leer, und der Eckschrank enthielt nichts als ein paar Bögen Papier und ein Tintenfass. Ein flüchtiger Blick auf die Bücher im Mahagoniregal bestätigte Miss Beachams Interesse an Geschichte, aber sie waren zu ordentlich, zu pedantisch aufgestellt, so als ob sie nur zur Zierde da wären.
    »Vielleicht hat sie ja ihren ganzen Kram in ein Hinterzimmer gestopft«, sagte ich an mein Ebenbild im Spiegel mit dem goldenen Rahmen gewandt und schnippte schon mal mit den Fingern, wie um mich zur Lösung des Rätsels zu beglückwünschen.
    »Klar, ein Büro! Jede Wette, dass sie ein Arbeitszimmer hatte.«
    Immerhin, so redete ich mir auf dem Weg durch den schmalen Flur zu, hatte Miss Beacham fast dreißig Jahre lang in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, und alte Gewohnheiten wird man nicht so schnell los. Das Wohnzimmer war dann wohl ihr Empfangsraum gewesen – förmlich und beeindruckend wie in einer besseren Kanzlei –,

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