Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
Thema Familienleben herumritt. Leise fügte sie dann hinzu: »Mein Mann ist ein halbes Jahr vor Chloes Geburt gestorben.«
»Oh«, brachte ich hervor, und mit einem Schlag fielen all meine Spekulationen in sich zusammen.
Joanna Quinn war also keine Gattin auf Abwegen.
Sie war Witwe, und ihrer eintönigen Kleidung nach zu urteilen, keine lustige. »Das tut mir sehr leid.«
»Es war ein Blitz aus heiterem Himmel – ein Autounfall. Am Morgen ist Jeremy zur Arbeit gefahren, und dann ist er nie heimgekommen.« Joanna faltete die Hände über dem Tisch. »Ich erzähle Ihnen meine Geschichte nicht, um Ihre Anteilnahme zu wecken, sondern um Ihnen verständlich zu machen, wie viel ich Elizabeth Beacham verdanke. Als Jeremy starb, stand ich plötzlich ganz allein da und hatte noch dazu ein Kind zu versorgen. Vor der Hochzeit hatte ich eine Ausbildung zur Anwaltsgehilfin absolviert, aber meine Fähigkeiten waren inzwischen etwas eingerostet. Doch ob mit oder ohne Pause, die meisten Firmen schreckten wohl vor allem davor zurück, eine junge Frau einzustellen, die zu Hause ein kleines Kind sitzen hat. Ich war schon langsam am Verzweifeln, als ich in der Kanzlei von Pratchett und Moss vorgesprochen habe. Und Elizabeth, Gott segne sie, hat mich genommen.«
Joanna verfiel in Schweigen, weil nun der Kellner kam und die Teller, einen Korb mit frischem, knusprigem Brot und eine Schale Butter auf den Tisch stellte. Kaum war er gegangen, meldete sich Gabriel zu Wort.
»Sie haben gesagt, dass Miss Beacham Sie genommen hat. Hatten Mr Pratchett und Mr Moss denn nichts mit der Entscheidung zu tun?«
»Elizabeth hatte in der Kanzlei das Sagen, nicht die Partner«, klärte ihn Joanna auf. »Schon bei ihrem Dienstantritt brachte sie eine langjährige Erfahrung mit, und die Anwälte vertrauten ihrem Urteil. Aber es steckte noch mehr dahinter. Ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist, aber Elizabeth war eine äußerst wohlhabende Frau.«
»Das hatte ich schon vermutet«, sagte ich. »Ein Blick in ihre Wohnung hat genügt, um …« Ich verstummte, weil Joanna mich verblüfft anstarrte.
»Sie waren in Elizabeths Wohnung?«, rief sie.
»Ja. Sie nicht?«
»Nie. Elizabeth war sehr warmherzig zu mir –
die Großzügigkeit in Person –, aber sie hat mich nie zu sich nach Hause eingeladen. Wie sieht es dort aus?«
»Überwältigend«, schwärmte ich. »Voller ausgewählter Antiquitäten. Ich verstehe immer noch nicht, wie sie sich so viele herrliche Sachen leisten konnte. Wie kommt eine Anwaltsgehilfin zu Reichtum?«
»Ich wünschte, das wüsste ich«, meinte Joanna mit einem gequälten Lächeln. »Ich liebe Antiquitä ten, aber so was könnte ich mir nie leisten. Natürlich war Elizabeth nie verheiratet und konnte darum immer allein über ihr Geld bestimmen. Und sie hatte auch keine Kinder, was, wie Sie zugeben müssen, immense Ausgaben bedeutet.«
»Kinder sind wirklich nicht billig«, bestätigte ich.
»Aber letztlich liegt es wohl hauptsächlich daran, dass sie einfach hervorragend mit Geld umgehen konnte«, fuhr Joanna fort. »Sie wusste, wann und wo sie investieren musste, und fuhr eine reiche Ernte ein. Das hat ihr hohen Einfluss in der Kanzlei verschafft. Wenn Mr Moss sie als Mandantin behalten wollte, musste er ihr die Vollmacht geben, das Büro so zu führen, wie sie es für richtig hielt –
ein ungewöhnliches Arrangement, gelinde gesagt, aber eines, von dem ich auf alle Fälle profitiert habe.«
»Inwiefern?«, fragte Gabriel.
»Elizabeth hat mich zu einer Zeit eingestellt, als alle anderen absagten. Aber sie hat noch mehr für mich getan. Sie half mir, für Chloe eine Tagesmutter zu finden, und sie verstand auch, dass ich an bestimmten Tagen einfach nicht zur Arbeit kommen konnte – wenn in den unpassendsten Momenten die Trauer über mich hereinbrach. Die Folge war, dass ich mich für sie zehnmal mehr ins Zeug gelegt habe, als ich das für sonst jemanden getan hätte, und meine Fehltage mit der Zeit kontinuierlich weniger wurden.« Joanna nahm sich eine Scheibe Brot und brach sie entzwei. »Man könnte wohl auch sagen, dass ihrer Haltung so was wie aufgeklärtes Eigeninteresse zugrunde lag. Indem sie mir half, über den Tod meines Mannes hinwegzukommen und die Probleme mit meiner Tochter in aller Ruhe zu regeln, zog sie sich eine Assistentin heran, wie man sie sich ergebener und fleißiger nicht wünschen kann.
Als dann die intensive Einarbeitung begann, war ich hoch motiviert, bereit, früh anzufangen, bis spät
Weitere Kostenlose Bücher