Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
im Büro zu bleiben und alle Verantwortung zu übernehmen, die sie mir anvertraute.«
»Und wann ging diese intensive Einarbeitung los?«, wollte ich wissen.
»Vor einem Jahr.« Joannas Stimme wurde leiser, und sie senkte den Blick. »Ich wusste es damals noch nicht, aber sie bereitete mich schon darauf vor, ihre Nachfolge anzutreten. Sie hatte die endgültige Diagnose erhalten. Ihr war klar, dass sie höchstens noch ein Jahr zu leben hatte.«
»Ihre endgültige Diagnose?«, fragte Gabriel.
Joanna hob die Augen. Ihre Stimme wurde wieder fester. »Der Krebs war bei Elizabeth schon in London festgestellt worden. Das war ihre erste Diagnose und der Grund, warum sie nach Oxford kam. Ihr war bewusst, dass die Behandlungen ihr Leben verlängern würden, aber den Tod eben nur eine Weile aufschieben konnten. Sie wollte die Zeit, die ihr noch verblieb, in der Nähe ihres Bruders verbringen.«
» Kenneth !«, riefen Gabriel und ich wie aus einem Munde.
Joanna prallte erschrocken zurück, wohingegen Gabriel und ich giftig den Kellner anstarrten, der herbeigeeilt war und mit berufsmäßiger Fröhlichkeit fragte, ob jemand vielleicht noch einen Wein wollte.
» Nein !«, bellten wir wie aus einem Mund, worauf der Arme verstört zurückwich und sich wortreich entschuldigte.
»Aber das ist doch kein Grund, so laut zu werden«, wunderte sich Joanna, die unsere heftige Reaktion auf die bloße Erwähnung von Miss Beachams Bruder zu befremden schien.
»Hat Ihnen Gabriel gesagt, warum wir mit Ihnen sprechen wollten?«, fragte ich sie.
»Nur, dass Sie Elizabeth helfen wollen. Und mehr brauchte er gar nicht zu sagen.«
»Etwas mehr sollten Sie schon wissen«, erwiderte ich und schilderte kurz, auf welche kuriose Weise ich dazu gekommen war, dem flüchtigen Kenneth nachzujagen. Ich war schon fast am Ende angelangt, als die Lasagne von einem eingeschüchterten Kellner hastig auf den Tisch gestellt wurde.
»Wünschen Sie noch was?«, fragte er an Joanna gewandt, vermutlich, weil sie als Einzige ihm noch nicht wegen einer harmlosen Frage den Kopf abgerissen hatte.
»Vorerst nicht, danke«, antwortete sie würdevoll. »Ich rufe Sie, wenn wir noch was brauchen.«
»Sehr wohl, Madam.« Er verbeugte sich eilig und huschte davon.
Ich vervollständigte meine Geschichte mit Blinkers Offenbarungen und unseren Erkenntnissen im Woolery’s Café und schloss mit der Erklärung:
»Das ist also der Grund, warum Gabriel und ich vielleicht ein bisschen zu heftig reagiert haben, als Sie Kenneth erwähnt haben.«
Gabriel nickte. »Von all den Leuten, die wir heute Vormittag befragt haben, sind Sie die Einzige, die weiß, dass es Kenneth überhaupt gab.«
»Und wenn Sie uns jetzt noch sagen, dass Sie ihn sogar persönlich kennen«, stimmte ich mit ein,
»falle ich auf der Stelle in Ohnmacht.«
»Äh …« Joanna blickte mich verunsichert an.
»Das war bloß ein Scherz«, beruhigte ich sie.
»Ich habe nicht die Absicht, mir eine Silbe entgehen zu lassen.«
»Also gut …« Joanna holte tief Luft. »In der ersten Zeit bei Pratchett & Moss habe ich Kenneth Beacham ziemlich oft zu Gesicht bekommen.«
»Wie sieht er aus?«, wollte ich wissen.
Joanna zuckte mit den Schultern. »Durchschnittliche Größe und Statur, braunes Haar – er war ziemlich unauffällig, aber immer gut gekleidet.
Seine Anzüge waren elegant geschnitten, und bei Krawatten hatte er einen hervorragenden Geschmack.«
»Er muss ziemlich wohlhabend gewesen sein«, meinte ich.
»Vermutlich. Er kam mindestens zweimal pro Woche ins Büro und ist dann mit Elizabeth ins Woolery’s zum Mittagessen gegangen. Sie waren ein Herz und eine Seele, jeder sprach immer den Satz des anderen zu Ende, und sie lachten über dieselben Witze – so wie es bei manchen Geschwistern eben üblich ist. Mehrere Monate ging das so, bis auf einmal ohne jede Vorwarnung Schluss war.
Kenneths Besuche haben von einem Tag auf den anderen aufgehört, und ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Bis heute frage ich mich, was aus ihm geworden ist.«
Ich starrte sie verwundert an. »Haben Sie Miss Beacham nicht gefragt?«
»Doch. Einmal. Aber sie war sehr einsilbig und erklärte nur, Kenneth hätte Oxford verlassen müssen.« Joanna seufzte. »So wie sie das sagte … da war zu spüren, dass es ihr wehtat, darüber zu reden. Ich wollte sie nicht noch mal darauf ansprechen.«
»Sie müssen aber doch neugierig gewesen sein«, meinte Gabriel.
Joanna lächelte. »Ich bin eine alleinerziehende Mutter und
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