Tante Inge haut ab
Ihr Ehe-Aus, dann könnten wir doch nach dem Grillen zum >Hafendeck< spazieren. Da ist heute Abend Tanz. So wie Sie aussehen, sind Sie doch bestimmt ein hervorragender Tänzer. Was halten Sie davon?«
Perplex sah Walter sie an. »Mal sehen«, stammelte er. »Vielleicht hat Inge ja auch Lust.« »Inge?« Jetzt trat Renate einen Schritt zurück. »Glauben Sie wirklich, dass Inge kommt?«
»Ja«, Walter nickte zuversichtlich, »das hat sie gesagt. Also, dann.«
Vom Fenster aus schaute Renate ihnen hinterher. Walter hatte einen beschwingten Gang, er war sowieso sehr fit für sein Alter. Renate lächelte. Außerdem war sie zehn Jahre jünger, das würde ihm bestimmt gut tun. Und Inge hatte ja doch was Provinzielles. Ganz im Gegensatz zu ihr. Renate fiel plötzlich ein, dass sie im Kühlschrank einen Pikkolo gesehen hatte. Sie holte ihn heraus, schraubte den Deckel auf und trank direkt aus der Flasche. •
Inge ließ den Brief sinken und hob den Kopf. »Der Brief ist von Oktober letzten Jahres.« Peter Sörensen nickte. »Ja. Ich weiß.« Christine rutschte ein Stück auf ihrem Stuhl nach vorn. »Was steht denn da jetzt drin ? Inge, mach's doch nicht so spannend.« Inge sah ihre Nichte an, dann strich sie den Bogen glatt und begann:
Wenningstedt, den 10. Oktober Meine liebe Inge,
in den Romanen, die wir beide so gerne lesen, fangen solche Briefe immer mit den Worten: »Wenn Du das hier liest, werde ich nicht mehr bei Dir sein« an. Das wollte ich auch erst schreiben, aber dann fand ich es unmöglich. Weil es auch nicht stimmt, dass ich irgendwann nicht mehr bei Dir sein werde. Du erbst mein Haus, und da stecke ich in jeder Ecke und in jeder Wand. Und Du wirst das spüren. Sei sicher.
Du bist nach Sinjes Tod diejenige gewesen, die mir die Liebste war, und deshalb möchte ich, dass Du mein Haus bekommst. Das habe ich immer gedacht, und dabei bleibt es. Der Grund dafür, dass ich Dir schreibe, ist ganz einfach: Ich habe in meinem Leben zwar vieles richtig gemacht, aber einige Dinge muss ich noch aufräumen. Und das will ich jetzt tun.
Weißt Du, ich habe noch niemals Menschen nur aufgrund eines Gefühls verdächtigt oder beschuldigt. Das will ich auch jetzt nicht tun, aber dieses Mal lässt mein Gefühl mir keine Ruhe. Deshalb möchte ich Dir einige Dinge anvertrauen, in der Hoffnung, dass keine meiner Befürchtungen zutrifft.
Alle haben immer gedacht, ich hätte meine Wohnung nur gemietet, aber das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, dass mir das ganze Haus schon lange gehört, nur hat das niemand gewusst. Ich habe diese schöne Wohnung bewohnt, die anderen drei wurden vermietet, alles Schriftliche lief über einen Anwalt, mit dem ich befreundet war: Karsten Kampmann. Er war ein feiner Mensch und sehr loyal. Ich war seine erste Mandantin, als er vor über 50 Jahren als junger Anwalt seine Kanzlei eröffnete. Ich bin damals mit Sinjes Vater zu ihm gegangen. Ja, Inge, ich sehe Dich jetzt förmlich nach Luft schnappen. Du hast mich nie nach ihm gefragt, dafür war ich Dir immer dankbar. Sinjes Vater hieß Peer. Kennengelernt habe ich ihn als junges Mädchen im Lazarett in Flensburg. Peer war bei einem Bombenangriff schwer verletzt worden. Er war furchtbar tapfer und konnte oft vor Schmerzen nicht schlafen. Wenn ich etwas Zeit hatte, setzte ich mich zu ihm, und wir erzählten uns Geschichten. Wochenlang. Und dabei haben wir uns verliebt. Aber Peer war verheiratet. Seine Frau war damals bei seinen Schwiegereltern in Dänemark, sie kam erst nach Kriegsende zurück. Deshalb hatten wir ein halbes Jahr für uns. Nach seiner Entlassung hatten wir uns zwar geschworen, uns nie wiederzusehen, was wir aber nicht schafften. Er war meine ganz große Liebe. Und Sinje unsere Tochter.
Als der Krieg aus war, bin ich, wie Du weißt, mit Sinje zurück nach Sylt Ich war sehr traurig, aber ich hatte wenigstens meine Tochter. Drei Jahre später hat Peer mich gefunden. Er hat darauf bestanden, dass er für Sinje und mich sorgt. Er hat das Haus gekauft und es umbauen lassen, so dass ich drei Wohnungen vermieten konnte. Dadurch war ich unabhängig. Karsten Kampmann regelte alles Rechtliche. Er war eingeweiht und hat jahrelang alles für mich organisiert. Peer tauchte offiziell nie auf.
Vor ein paar Jahren hat Karsten vorgeschlagen, die Verwaltung des Hauses an eine Verwaltungsgesellschaft: zu übertragen, er wollte sich langsam aus den Geschäften zurückziehen. Karsten ist kurz danach tragisch ums Leben gekommen, und sein Sohn Mark hat die
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