Tante Inge haut ab
Inge lag mit einem nassen Waschlappen auf dem Gesicht in einem Liegestuhl im schattigen Teil von Petras Garten. Ihre Arme hatte sie über ihrem Bauch verschränkt, die nackten Füße fielen nach außen.
Christine betrachtete ihre Tante von oben. Inge trug eine knielange Hose mit Rosenmuster, dazu ein pinkfarbenes T-Shirt, ihre Haare waren gefönt, nur der Waschlappen störte.
Unbemerkt war Petra neben Christine getreten. »So liegt sie schon seit einer Stunde«, flüsterte sie. »Aber sie atmet. Das habe ich alle zehn Minuten kontrolliert.«
Christine ging einen Schritt vor. Man konnte ein leises Schnarchen hören. »Sie schläft. Und wie.«
Petra grinste. »Das muss ja eine irre Party gewesen sein. Dafür bist du aber früh auf. Wer von euch hatte denn Geburtstag?«
Tante Inge schnappte kurz nach Luft, dann wurde ihre Atmung wieder regelmäßig. Christine zog Petra ein Stück zur Seite.
»Du könntest mir eigentlich einen Kaffee anbieten.«
Kurz darauf setzten sie sich mit zwei Tassen in einen Strandkorb, von dem aus sie Inge im Blick hatten.
»Also«, Petra hatte ihre Frage noch nicht vergessen, »was habt ihr denn gestern gefeiert?«
»Nichts«, Christine rührte Milch in ihren Kaffee, »das war mehr so ein spontaner Dämmerschoppen. Kann ja mal passieren. Mein Vater hat Inge hergebracht, oder?«
»Ja. Das war auch so ein Ding: Er hat mir eine Standpauke gehalten.« Christine hob erstaunt den Kopf. »Dir? Wieso das denn? Du warst doch gar nicht dabei.«
Petra lachte. »Eben. Er hat gesagt, ich hätte eine gewisse Aufsichtspflicht. Ich hätte ihn anrufen sollen, als seine Schwester so lange wegblieb. Das sei unverantwortlich gewesen.«
»Ach ja? Sag mal, warum wohnt Inge denn überhaupt bei dir?"
»Wieso nicht?«, antwortete sie verwundert. »Ich bin davon ausgegangen, dass ihr keinen Platz habt. Als Heinz siebzig geworden ist, hattet ihr doch auch so viel Besuch. Da hat Inge ja auch hier gewohnt.«
»Und für wie lange hat sie gebucht?«
Mit einem Blick auf die unveränderte Stellung von Tante Inge erwiderte Petra: »Erst mal zwei Wochen. Je nachdem, wie lange sie für die ganze Geschichte braucht.«
Elektrisiert sah Christine sie an und überlegte, wem ihre Tante was erzählt hatte. Vermutlich redete bereits die ganze Insel über Inges Trennung. Das war ja grauenhaft. Laut wiederholte sie: »Die ganze Geschichte. So kann man das auch nennen.«
»Na ja«, Petra zuckte mit den Achseln, »sie weiß ja nicht, was sie alles noch regeln muss.«
»Regeln ?« Christines Stimme wurde lauter, so dass Inge sich auf ihrer Liege ein bisschen bewegte. »Was muss sie denn regeln?«
»Na, das mit Frau Nissen.« Petra sah sie erstaunt an. »Ihre alte Lehrerin. Sie ist doch im März gestorben, Inge war auf der Beerdigung. Deshalb ist sie doch jetzt hier.«
Frau Nissen war die erste Lehrerin, die Inge auf der Insel gehabt hatte. Inge war immer ihre Lieblingsschülerin gewesen, und später wurde sie eine Art Ersatztochter für sie. Daraus hatte sich eine lebenslange Freundschaft entwickelt. Die beiden unternahmen jedes Jahr zusammen kleine Reisen, schrieben sich Briefe und telefonierten. Jetzt war die alte Dame also gestorben. Unsicher guckte Petra in Inges Richtung, bis Christine abrupt aufstand.
»So«, sagte sie entschlossen, »jetzt gehe ich aufs Klo, und dann brülle ich sie wach und gebe ihr nicht eher Aspirin, bis sie geredet hat. Petra, ich erkläre dir alles später in Ruhe.«
War das die Stimme ihrer Nichte? Inge öffnete kurz die Augen und lupfte den Waschlappen, um zu gucken, was los war. Christine verschwand gerade im Haus, während Petra sich im Strandkorb zurücklehnte. Beruhigt ließ Inge ihre schweren Lider wieder fallen. Sie hatte das Gefühl, ihr Hirn schwappte in einer Sektwelle durch ihren Schädel und stieß immer mal wieder seitlich an. Ab jetzt würde sie nie wieder grüne Getränke und rosa Sekt angucken, nie mehr.
So etwas Ähnliches hatte sie gestern Abend auch ihrem Bruder versprechen müssen. Meine Güte, was hatte der für ein Theater gemacht. Natürlich war es dumm gewesen, ihm zu erzählen, dass ihr schwindelig sei und sie schon seit geraumer Zeit immer wieder mal Kreislaufprobleme habe. Sie konnte ja nicht ahnen, dass er sie deshalb gleich in die Nordseeklinik brachte. Inge stöhnte bei der einsetzenden Erinnerung auf. Sie harte das Ganze sehr lustig gefunden und dem diensthabenden Arzt einen Blutaustausch vorgeschlagen. »Wissen Sie«, harte sie ihm zugelallt, »da ist so
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