Tante Inge haut ab
langen Schritten ging sie zum Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Hat sie dir irgendetwas erzählt?"
»Nein, Papa.«
Christine antwortete automatisch, sie hatte das Gefühl, das ein Gespräch über Frau Nissen noch mehr durcheinanderbringen würde. Ihr Vater fixierte den Gartenweg und schüttelte ratlos den Kopf.
»Ich verstehe sie nicht. Ich habe ein ganz komisches Gefühl. Irgendwas ist da passiert. Warum redet sie denn nicht mit mir darüber?«
»Das wird sie schon noch. Ich glaube fast, dass wir aus einer Mücke einen Elefanten machen. Warte einfach mal ab.« Christine legte die Decke auf die Liege zurück und zog sich ihren Pullover glatt. »Ich fahre jetzt nach Hause und gucke mal, was Johann macht, schließlich bin ich mit ihm hier. Also dann.«
Heinz ließ sich langsam auf die Liege sinken und zerpflückte einen Grashalm nach dem anderen zwischen den Fingern. Er merkte nicht, dass seine Schwester oben am Fenster stand und ihn beobachtete.
Irgendwie tat er Inge leid, wie er da hockte, mit der Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. Er machte sich dauernd Sorgen, Inge hatte das schon als Kind gehasst. Nie ließ sich ihr großer Bruder beruhigen. Als sie einmal einen Reitkurs machte, stand er immer am Gatter und hielt sich bei jeder Bewegung des Pferdes die Augen zu. Inge hatte ihn gebeten, das zu lassen, da sie bereits das Gespött des ganzen Reiterhofs war. Heinz hatte sich entschuldigt - und weitergemacht. Sie war damals zwölf, er 21. Oder die Zeit, in der sie ihren Führerschein machte. Heinz war schon mit Charlotte verheiratet, Christine war bereits geboren. Während einer Fahrstunde entdeckte Inge plötzlich im Rückspiegel den roten Simca ihres Bruders, der sie durch die ganze Stadt verfolgte: »Ingelein, es ist doch nur, falls du noch Fragen wegen der Verkehrsführung hast. Ich weiß doch dann Bescheid, wo du gefahren bist. Außerdem war ich sowieso unterwegs. Das machte gar keine Mühe.« Ihre Freundinnen hatten sie immer um ihren großen Bruder beneidet, sie hatten keine Ahnung gehabt.
Kurz entschlossen riss Inge das Fenster sperrangelweit auf und stützte sich auf die Fensterbank. Aufgeschreckt sah Heinz zu ihr hoch.
»Sag mal, auf was wartest du?« Ihr Bruder stand langsam auf, ließ sein Grasbüschel fallen und kam zum Haus herüber.
»Ich kann dich doch auch zu deiner Verabredung fahren. Hab ich mir so überlegt.«
»Auf dem Gepäckträger?«
»Wie?«
Inge atmete tief durch. »Du bist mit dem Fahrrad da. Und ich muss nach Wenningstedt.«
»Oh. Ach so. Na ja. Christine hätte dich ja auch fahren können. Jetzt ist sie weg. Ärgerlich.« Er nahm seine Schirmmütze ab, fuhr sich durch sein Haar und setzte sie wieder auf. »Wirklich ärgerlich.«
Inge zwang sich, einen Moment auf die blühenden Heckenrosen zu starren, bevor sie antwortete. Er war ihr Bruder.
»Lass nur, ich nehme mir ein Taxi. Und du fährst jetzt am besten nach Hause. Ihr wollt doch Christines Freund kennenlernen.«
Heinz winkte ab. »Den kenne ich schon. Und Taxis sind hier teuer.«
»Jetzt ist aber gut! So, ich muss mich fertig machen, bis später.«
Ein letzter gequälter Blick, dann setzte sich Heinz in Bewegung und ging langsam zu seinem Fahrrad. Erleichtert schloss Inge das Fenster. Sie würde demnächst in Ruhe mit ihrer Familie reden, aber erst musste sie sich über die nächsten Schritte klar werden. Dabei konnte sie gutgemeinte Ratschläge ihres Bruders wirklich nicht gebrauchen. Während Christine das Auto gestartet harte, war ihr Blick auf die Uhr gefallen. Sie war zwei Stunden bei Petra und Inge gewesen, das hatte sie gar nicht gemerkt. Mit schlechtem Gewissen holte sie ihr Handy aus der Tasche und suchte Johanns Nummer. Ohne ein Freizeichen sprang seine Mobilbox an, er hatte sein Telefon ausgestellt. Christine legte den Rückwärtsgang ein und fuhr nach einer Wende vom Parkplatz.
Es war schon der vierte Tag ihres Urlaubs, blieben noch zehn, bevor Christine in Hamburg und Johann in Bremen wieder vom Alltag eingeholt wurden. Irgendwie gingen die gemeinsamen Tage immer viel schneller vorbei als die Zeit dazwischen. Christine hatte in den letzten fünf Jahren allein gelebt. Die ersten beiden Jahre nach ihrer Scheidung war es ihr schwergefallen, sie hatte zwar Affären gehabt, die eine oder andere Fast-Liebesgeschichte, aber nichts, was ihr Singleleben ernsthaft in Gefahr gebracht hätte. Sie fand es gut, wie es war: ihre Wohnung, ihre Freunde, die Freiheit, jederzeit den Tagesplan über Bord zu
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