Tante Inge haut ab
anstellte. Er war 65, mit guter Rente und einträglichen Nebenjobs. Und er hatte sich während ihrer Kur wunderbar versorgen lassen. Inge räusperte sich.
»Ich muss jetzt weiter. Also dann, tschüss.«
Bevor er antworten konnte, harte Inge den roten Knopf gedrückt und ihr Handy in die Tiefen ihrer Handtasche versenkt. Christine parkte das Auto vor dem Kampener Campingplatz. Johann sah sich um. »Was willst du hier? Wollen wir für den Rest des Urlaubs zelten? So schlimm finde ich deine Familie nun auch wieder nicht. Komm, Christine, gib ihnen noch eine Chance. Außerdem hasse ich es, auf Luftmatratzen zu schlafen. Und ich habe Angst vor Krabbeltieren im Zelt."
Christine war schon ausgestiegen und nahm ihre Jacke von der Rückbank. »Los, komm. Wir machen einen Spaziergang über das Rote Kliff, an der Uwe-Düne vorbei bis zur >Sturmhaube<. Dort kannst du mich zum Essen einladen, wir gucken uns einen grandiosen Sonnenuntergang an und haben es furchtbar romantisch.«
Drei Minuten später gingen sie langsam auf dem Dünenweg entlang. Johann ließ den Blick über das Dünental schweifen und sah Christine von der Seite an.
»Schön hier. Aber man sieht gar kein Meer.«
»Dafür Dünen, mein Lieber, und wie viele! Und alle anders. Und Heide.«
»Ich finde es, offen gestanden, ein bisschen langweilig.«
Christine guckte sich um. »Du hast keine Ahnung. Alle Dramen, Geheimnisse und Morde auf dieser Insel fanden zum großen Teil in diesen Dünen statt. Das hier ist Geschichte. Und sieh mal, da hinten, da am Ende, da kommen wir ans Wasser.«
Sie überquerten die letzte Düne und sahen plötzlich die Weite des Wassers. Johann blieb stehen und legte den Arm um Christine. »Es ist doch wirklich großartig, dass wir jetzt hier sind, oder?«
Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Ja.«
Etwas später saßen sie auf einer Bank dicht an der Kliffkante. Die Abendsonne schien und tauchte das Kliff in rotgoldenes Licht. Johann schwieg, erschien völlig fasziniert von diesem Lichtspiel. Schließlich räusperte er sich.
»Sag mal, wir haben doch vor ein paar Wochen darüber gesprochen, wie lange wir diese Fahrerei noch machen wollen. Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht?«
»Welche Fahrerei?« Christine bemühte sich um einen harmlosen Gesichtsausdruck.
»Ach komm, dieses Hin und Her zwischen Hamburg und Bremen. Das machen wir jetzt bald ein Jahr lang und ...«
»Neun Monate.« Ihre Korrektur kam zwar leise, dafür war seine Reaktion aber heftig.
»Christine, meine Güte, du weichst aber auch jedes Mal aus! Was soll das? Es ist doch egal, ob es neun oder zwölf Monate sind. Mir geht diese Wochenendbeziehung auf die Nerven, ich will auch mal dienstags oder mittwochs was mit dir machen. Hängst du so an deiner Wohnung? An Hamburg? Am Alleinleben? An deinem Job? Oder willst du dich einfach nicht festlegen?«
Ihr Job! Christine bekam sofort Magenschmerzen. Sechzehn Jahre arbeitete sie schon für den Verlag, der vor einem Jahr von einem Konzern übernommen worden war. Sie hatte immer gern dort gearbeitet, bis im letzten Jahr das neue Zauberwort gekürt worden war: Umstrukturierung. Inzwischen war kaum noch etwas wie früher, zwei Kollegen hatten gekündigt, ihre eigene Arbeit hatte sich komplett verändert, der neue Chef war ein 34-jähriger Betriebswirt, der keine Ahnung von Büchern hatte und alles anders machen wollte. Er dachte wirtschaftlich. Und innovativ. Und überhaupt war er ein Idiot. Christine schüttelte sich schon beim Gedanken an ihn. Als sie im letzten Sommer nach Norderney fuhr, hatte die Umwandlung bereits begonnen. Ein paar Tage hatte sie damals darüber nachgedacht, ob sie den ganzen Kram hinschmeißen und bei Marleen anheuern sollte. Sie hätte gut in deren Pension arbeiten können, es gab wirklich schlechtere Plätze auf der Welt. Aber sie hatte es ziemlich schnell wieder verworfen. Und dann war ja auch Johann in ihrem Leben aufgetaucht, was alles leichter machte und sie den Stress immer wieder vergessen ließ.
»Christine?«
Sie zuckte zusammen und riss ihren Blick vom Roten Kliff los. »Entschuldigung. Ich war in Gedanken. Was hast du gesagt?«
Johann sah sie irritiert an und seufzte. »Schon gut. Wir können das Thema auch erst mal lassen. Vielleicht ist es wirklich Blödsinn. Also, wollen wir weiter? Ich muss langsam mal was essen.«
Er stand auf und stellte sich vor sie in die Sonne. Christine hätte sich selbst ohrfeigen können, irgendwie ließ sie keine Gelegenheit aus, alles zu
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