Tante Inge haut ab
werfen, weil jemand anrief oder vorbeikam. Keine Verpflichtungen, keine Absprachen, keine Kompromisse. Gut, manchmal auch ein ziemlich kaltes Bett im Winter, ein leerer Kühlschrank und einsame Samstagabende mit Tiefkühlpizza und der achten Wiederholung eines Fernsehkrimis, den sie beinahe schon synchronisieren konnte, aber trotzdem: Es gab Schlimmeres, wenn sie an ihre Ehe dachte, sogar viel Schlimmeres.
Als sie Johann im letzten Sommer auf Norderney kennengelernt hatte, hatte sie sich im selben Tempo in ihn verknallt wie zum letzten Mal mit dreizehn. Mit zitternden Knien, Hitzewallungen, Herzklopfen und pubertierendem Benehmen. Es war wie im Film gewesen. Sogar wie in einem mit Happy End. Einfach großartig. Und es war immer noch so. Und das Beste war - neben Johann natürlich -, dass sie eigentlich gar nichts ändern musste. Ihr bisher fabelhaft eingerichtetes Leben blieb fabelhaft, nur dass jetzt das Bett im Winter öfters warm und der Kühlschrank meistens voll war. Und die Samstagabende waren jetzt Johann-Abende. Ein Wochenende verbrachten sie in Bremen, das andere in Hamburg. Alles war gut. Eigentlich. Vor einigen Wochen hatte Johann sie gefragt, wie lange sie diese Fernbeziehung noch leben wolle. Christines Antwort: »So zweihundert Jahre mindestens«, fand er nicht sehr komisch. Ihm wäre es zu viel Fahrerei, und er wäre langsam zu alt, alles Wichtige am Telefon zu bereden und am Wochenende schwierige Themen zu verdrängen, nur weil man es schön haben wollte. Christine tat so, als wüsste sie nicht, welche schwierigen Themen er meine, es wäre doch alles gut so. Johann sah sie ernst an, hatte dann aber nicht mehr nachgehakt.
An der Ampel neben dem Kaamphüs musste sie halten. Auf dem Fußweg neben ihr stand ein Paar. Sie redete auf ihn ein, er winkte genervt ab. Sie fasste ihn am Ellenbogen, woraufhin er harsch seinen Arm wegriss.
Christine schüttelte sich und konzentrierte sich wieder auf das rote Licht der Ampel. Sie wollte nicht so ein Paar sein. Grauenhaft. Sie wollte sich auf Johann freuen und sich nach ihm sehnen. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass das nicht in einer Wohnung ging. Wie denn auch? Sehnsucht baute sich schließlich nicht in sechs oder acht Stunden auf, bis der andere wieder nach Hause kam. Das hatte sie schon mal gehabt. Und damals hatte sie es nicht hingekriegt. Außerdem hasste sie Veränderungen. Das waren die Gene ihres Vaters, die hatte sie komplett mitbekommen. Sie hatte es gehasst, ihr Leben zu verändern, als ihr Exmann sie betrogen hatte. Sie wollte nicht in eine fremde Wohnung mit neuen Möbeln, sie wollte keine neue Adresse und Telefonnummer, kein neues Autokennzeichen, keinen neuen Friseur und Zahnarzt, sie wollte, dass alles so blieb, wie es war. Ging aber nicht. Im Nachhinein musste sie zugeben, dass alles, wirklich ausnahmslos alles, besser geworden war. Trotzdem war es anstrengend gewesen, und deshalb wollte sie keine Veränderungen mehr. Nicht mehr in diesem Leben.
Die Ampel sprang um. Christine fuhr weiter. Mit Johann war doch eigentlich alles ganz unkompliziert. Sie harten es gut geregelt, telefonierten jeden Tag und sahen sich jedes Wochenende. Und es war immer schön. Außerdem harten sie beide viel Urlaub. Gleich am Anfang hatte Christine ein paar Tage in Bremen verbracht. Johann musste zwar arbeiten, aber sie harten sich jeden Tag gesehen. Umgedreht hatte dasselbe dann zwei Monate später in Hamburg stattgefunden. Es war wunderbar gewesen, doch war Christine danach nicht sonderlich traurig gewesen, ihre Wohnung wieder für sich zu haben. Zweieinhalb Zimmer zu zweit war nicht gerade weitläufig. Und dieser Urlaub hier auf Sylt sollte ebenfalls schön werden, das hatte sie sich fest vorgenommen.
Sie beschleunigte, nachdem sie das Ortsausgangsschild von Kampen passiert hatte. Ein Auto kam ihr entgegen, das sie anblinkte. Ein roter Käfer, Anika. Sie saß allein im Wagen und hob eine Hand, Christine grüßte zurück und fragte sich sofort, wo sie herkam. Aus List, wo sie Johann getroffen hatte? Christine schüttelte energisch den Kopf und stellte das Autoradio lauter. Sie war wirklich neben der Spur. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen, sie war erschöpft, genervt und latent schlecht gelaunt. Sie hatte diesen Urlaub und Johann wirklich gebraucht, ohne dass sie über ihre Probleme reden wollte, die würden sich schon irgendwie lösen lassen. Aber sie hatte überhaupt keine Lust, sich die Probleme anderer Leute anzuhören, und schon gar nicht, sie
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