Tante Inge haut ab
und machte sich nach einem letzten Blick hoch zum Fenster auf den Weg in die Friedrichstraße. Bevor sie nach Kampen zurückfuhr, wollte sie noch einen Blick in die Boutique an der Strandpromenade werfen. Vielleicht sollte sie sich noch ein gelbes Teil kaufen. Anscheinend war sie doch so ein Farbtyp, auch wenn sie das die letzten Jahre nicht gedacht hätte. Mark hatte sie bewundernd angesehen und gesagt, sie sähe in diesem Kleid um Jahre jünger aus. Er könne es kaum fassen, dieses Gelb würde ihr hervorragend stehen. Inge hatte ihren Hut lässig abgenommen, ihre Beine übereinandergeschlagen und sich sehr attraktiv gefühlt. Und danach war alles ganz wunderbar gewesen...
Bei »Gösch« saßen Massen von Menschen vor Scampi, Fischbrötchen und Wein. Die Gläser klangen beim Anstoßen, unaufhörlich, Inge wunderte sich, bis sie merkte, dass das Geräusch nicht von den Tischen, sondern aus ihrer Handtasche kam. Ihr Handy klingelte. Sie blieb stehen, kramte es hervor und sah die Anzeige.
-Hallo Walter. Ich kann dich nicht vom Festnetz zurückrufen, ich bin unterwegs.«
Sie ging langsam weiter und erwartete eigentlich, dass er das Gespräch gleich beendete.
»Na, Inge, das musst du auch nicht. Ich wollte nur mal hören, wie es dir so geht.«
»Das ist dir doch sonst zu teuer, vom Festnetz aufs Handy. Ist was passiert?«
Walters Stimme klang beruhigend. »Nein, alles in Ordnung. Pia hat gefragt, wie lange du noch auf Sylt bleibst und warum ich nicht mitdurfte.«
Inge setzte sich auf eine gemauerte Beetumrandung etwas abseits vom Trubel. »Und was hast du ihr gesagt?« Sie sah förmlich sein angestrengtes Gesicht vor sich.
»Was ich ihr gesagt habe? Na ja, dass ihre Mutter ein bisschen gestresst war, nach der Fastenkur, und dass ich da einen kleinen Fehler gemacht habe, wegen dieses Diabetikerabends, und dass du noch mal ein paar Tage Urlaub machen wolltest. Und ich hätte zu viel zu tun. Das habe ich gesagt, damit sich das Kind nicht beunruhigt.« »Walter! Das Kind ist vierzig. Das beunruhigt sich nicht so schnell.«
Walter schnappte nach Luft. »Aber Inge, was soll ich denn sagen? Du kommst vom Fasten und bist komisch, hast lauter bunte neue Sachen, kochst so ein Sprossenzeug und telefonierst ständig mit dieser Renate, die mich behandelt, als wenn ich nicht bei Verstand wäre.«
»Wann hat sie denn mit dir geredet?«
»Wenn ich ans Telefon gegangen bin. Dann hat sie mit Grabesstimme gesagt: >Renate hier. Inge bitte.< Das ist doch keine Art.«
Das war typisch Walter. Er regte sich schon wieder über Kleinigkeiten auf.
»Also, Walter, und was wolltest du jetzt?«
»Wieso?«
»Du hast mich angerufen.«
»Ach ... ja ... was wollte ich eigentlich von dir? ... Ich wollte wissen, wann du nach Hause kommst. Das ist hier irgendwie langweilig ohne dich.«
Inge verbiss sich ein Lächeln. »Walter Müller, das ist seit Jahren das Netteste, das du zu mir gesagt hast.«
»Dummes Zeug. Was soll ich denn machen. Ich bin ja nicht so geübt in, wie sagt man, Süßholzraspeln.«
»Darüber solltest du mal nachdenken.« Inge stand auf und ging ein paar Schritte. »Ich habe dir gesagt, ich will was ändern. Unser Leben kann doch so nicht weitergehen. Irgendwann fallen wir vor Langeweile um.«
»Aber Inge! Es ist doch gar nicht so ...«
»Doch, Walter, ist es. Ich lege jetzt auf, ich stehe nämlich mitten in der Einkaufsstraße und habe keine Lust, hier stundenlang zu diskutieren.«
»Aber du kommst doch ... Ich meine, du machst doch jetzt keinen Blödsinn, oder?«
»Was ist schon Blödsinn? Hauptsache, ich mache überhaupt mal was. Wir werden in Ruhe darüber sprechen. Wenn alles etwas klarer ist. Und jetzt mach's gut und pass auf dich auf. Bis dann.«
»Inge?«
»Ja?«
»Hast du Geheimnisse vor mir?«
Inges Gedanken wirbelten durcheinander. Sie hasste es, zu lügen, es half jetzt aber nichts. »Sagen wir mal so: Ich habe einen kleinen Wissensvorsprung. Ich werde dir alles zu gegebener Zeit mitteilen. Mehr kann ich dir nicht sagen. Tut mir leid."
Am anderen Ende war ein langer Seufzer zu hören. Dann noch einer. Stille.
»Walter?«
»Ich habe gerade so einen Druck. So im Magen. Also leicht oberhalb.«
»Du hast keinen Druck im Magen. Und du kriegst auch keinen Herzinfarkt. Deine Werte waren alle in Ordnung. Lass mich ein paar Tage in Ruhe, dann sehen wir weiter. Wir telefonieren. Und iss anständig, nicht immer nur Currywurst.«
Warum sagte sie das jetzt? Sie harte selbst Schuld, dass Walter sich immer so
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