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Tante Inge haut ab

Tante Inge haut ab

Titel: Tante Inge haut ab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dora Heldt
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behalten.«
    Anika sah sie fragend an und nickte vorsichtig.
    »Ich habe in Wenningstedt ein Haus geerbt. Von meiner alten Lehrerin Anna Nissen. Sie ist vor zwei Monaten gestorben.« Inge hatte den Kopf abgewandt und sah hinaus auf die Brandung. Alte Erinnerungen stiegen wieder hoch. »Als ich so alt war wie Till, hatte ich eine beste Freundin. Sinje Nissen. Wir waren dauernd zusammen, machten alles gemeinsam. Im Sommer waren wir jeden Tag am Strand, wir konnten beide gut schwimmen. Bis zu diesem grauenhaften Sonntag im Juli ... Es war sehr heiß, Sinje und ich hatten den ganzen Tag bei einem Bauern in Morsum Erdbeeren gepflückt. Wir waren mit den Fahrrädern unterwegs und hatten beschlossen, vor dem Abendessen schnell noch mal ins Meer zu springen. Sinje war als Erste im Wasser ... Ich weiß nicht, was dann passiert ist. Vielleicht hat sie einen Krampf bekommen, vielleicht war sie auch zu lange in der Sonne gewesen, vielleicht war es die Strömung: Jedenfalls sah ich ihren Kopf auf einmal nicht mehr vor mir. Irgendwie habe ich es geschafft, zu ihr zu schwimmen. Ich habe sie unter den Armen gepackt... sie hat sich überhaupt nicht mehr bewegt...«
    Inge schluckte die Tränen weg, es war so lange her, und trotzdem waren die Bilder so deutlich.
    Anika nahm ihre Hand. »Und dann?«
    »Es waren Spaziergänger am Strand. Sie haben mir geholfen. Ein Mann war ... Arzt, aber er konnte nichts mehr machen. Sinje war tot.«
    »Wie alt wart ihr damals?«, fragte Anika mit belegter Stimme.
    »Wir waren zwölf.« Inge kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.
    »So, meine Hände sind sauber.«
    Unbemerkt war Till zurückgekommen, sie schreckten beide hoch. Anika reagierte zuerst.
    »Super. Dann kannst du in die Küche zu Peer gehen und fragen, ob er noch Eis hat.«
    Mit strahlendem Lächeln verschwand er. Anika griff wieder nach Inges Hand. »Das ist ja furchtbar.«
    »Ja.« Inge putzte sich die Nase. »Und weißt du, was das Allerschlimmste war?«
    Anika schüttelte den Kopf.
    »Keiner wusste, dass Sinje Annas leibliche Tochter war. Alle hatten gedacht, sie wäre ein Pflegekind gewesen, das Anna nach dem Krieg adoptiert hat.«
    »Aber eine Schwangerschaft lässt sich doch nicht verheimlichen.«
    Inge schaute wieder aufs Wasser. »Wir sind beide 1944 geboren, noch im Krieg. Anna war damals Krankenschwester. 1941 ist sie nach Flensburg gegangen, ins Lazarett, um da zu arbeiten. Dort ist Sinje auch zur Welt gekommen. Ich habe keine Ahnung, wie Anna das allein hinbekommen hat. Als der Krieg vorbei war, kam sie mit dem Kind zurück auf die Insel und erklärte allen, Sinjes Eltern seien bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Alle haben ihr geglaubt, ihre Eltern, ihre Freunde, alle. Man wusste ja auch nie etwas von einem Mann in Annas Leben. Ihre Eltern haben sich dann um Sinje gekümmert, während Anna in Kiel war, um zu studieren. Danach bekam sie die Stelle als Lehrerin in Westerland. Sie wurde meine Klassenlehrerin. Und Sinje meine Freundin.«
    Atemlos hatte Anika zugehört. »Und woher weißt du, wie das alles gewesen ist?«
    »Das hat Anna mir erzählt. Ich bin die Einzige, mit der sie jemals darüber gesprochen hat, das war erst zehn Jahre nach Sinjes Tod. Ich war 2,2, und sie musste es sich endlich mal von der Seele reden. Sie hat mich immer als ihre Ersatztochter betrachtet. Deswegen hatten wir auch eine so enge Verbindung. Meine Familie weiß, dass wir immer Kontakt hatten, wie innig der tatsächlich war, haben sie aber nie mitbekommen. Nachdem ich dann von der Insel weg bin, um Walter zu heiraten, haben wir bestimmt zweimal pro Woche telefoniert, weißt du, wir fanden immer Themen, über die wir uns unterhalten konnten, es wurde nie langweilig. Einmal im Jahr sind wir miteinander verreist, immer eine Woche im Mai. Anna suchte die Ziele aus. Paris, London, Oslo, Mallorca, die letzte Reise vor drei Jahren ging nach Island. Danach wollte sie nicht mehr verreisen. Sie hatte alles gesehen, was sie sich vorgenommen hatte ... Ich vermisse sie so.«
    »Das glaube ich dir. Und wer war Sinjes Vater?«
    Inge hob die Schultern. »Das ist Annas Geheimnis geblieben. Darüber hat sie nie gesprochen. Ich weiß nur, dass er sie unterstützt hat. Sie hatte zwar ihr Lehrerinnengehalt und auch ein bisschen was von ihren Eltern geerbt, aber ein Haus hätte sie davon nie bezahlen können. Weißt du, ich dachte immer, sie wohnt da zur Miete. Dass sie die Eigentümerin ist, habe ich erst durch das Testament erfahren.«
    »Mama!« Till

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