Tante Julia und der Kunstschreiber
Dezember nahm er ihn auf einen Spaziergang zur Einsiedelei der Santa Rosa von Lima mit und sah ihn eine goldene Münze in den Brunnen werfen und um eine Gnade flehen, und manchen Sonntag im glühenden Sommer lud er ihn zu einem Zitronensaft in den Arkaden der Plaza San Martin ein. Er fand den Jungen elegant, weil er so schweigsam und melancholisch war. Hatte er eine geheimnisvolle Krankheit der Seele oder des Körpers, die ihn verzehrte, irgendeinen unheilbaren Liebesschmerz? Ezequiel Delffn schwieg wie ein Grab, und wenn die Bergua sich gelegentlich mit dem notwendigen Zartgefühl als Tränentuch anboten und fragten, warum er, so jung wie er war, immer allein sei, warum er nie auf ein Fest gehe oder ins Kino, warum er nie lache, warum er soviel seufze, den Blick ins Leere gerichtet, errötete er nur und stammelte irgendeine Entschul digung. Dann schloß er sich in der Toilette ein, wo er manchmal Stunden zubrachte, mit der Ausrede, er leide an Verstopfung. Er ging und kam von seinen Geschäftsreisen wie eine Sphinx – die Familie erfuhr nicht einmal, für welche Firma er arbeitete, was er verkaufte –, und hier in Lima schloß er sich in seinem Zimmer ein – um in der Bibel zu lesen oder zu meditieren? Kupplerisch und voller Mitgefühl ermunterten ihn Dona Margarita und Don Sebastian, an den Klavierübungen von Rosa teilzunehmen, »das werde ihn ablenken«, und er gehorchte. Aufmerksam und ohne sich zu rühren saß er in einer Ecke des Raumes und hörte zu und applaudierte am Ende höflich. Oft begleitete er Don Sebastian zur Morgenmesse, und in jenem Jahr ging er in der Karwoche zusammen mit den Bergua den Kreuzweg. Damals schien er bereits ein Mitglied der Familie zu sein. Darum sorgten die Bergua sich sehr, als Ezequiel, gerade von einer Reise in den Norden zurückgekommen, beim Mittagessen plötzlich in Schluchzen ausbrach. Die anderen Pensionsgäste –ein Friedensrichter aus Ancash, ein Pfarrer aus Cajatambo und zwei Mädchen aus Huânuco, Schwesternschülerinnen – erschraken, und die magere Portion Linsen, die man gerade aufgetragen hatte, wurde über den Tisch verschüttet. Alle drei Bergua begleiteten ihn auf sein Zimmer, Don Sebastian lieh ihm sein Taschentuch, Dona Margarita kochte ihm einen Kamillentee mit Pfefferminz, und Rosa legte ihm eine Decke über die Füße. Nach ein paar Minuten beruhigte sich Ezequiel Delfïn, bat um Entschuldigung für seine »Schwäche«, erklärte, er sei in letzter Zeit sehr nervös, er wisse nicht warum, aber sehr oft und zu jeder Tageszeit und an jedem Ort breche er in Tränen aus. Beschämt, fast tonlos gestand er ihnen, daß er nachts Angstzustände habe. Bis zum Morgengrauen liege er dann zusammengerollt, schlaflos von kaltem Schweiß bedeckt und denke an Gespenster und bemitleide sich selbst wegen seiner Einsamkeit. Sein Geständnis rührte Rosa zu Tränen, und die Hinkende bekreuzigte sich. Don Sebastian bot sich an, bei ihm im Zimmer zu schlafen, um dem Verängstigten Mut und Erleichterung zu geben. Dieser küßte ihm aus Dankbarkeit die Hände. Ein Bett wurde in das Zimmer geschoben und eifrig von Dona Margarita und ihrer Tochter bezogen. Don Sebastian stand in der Blüte seiner Jahre, er war etwa fünfzig, und pflegte genausoviele Liegestütze vor dem Schlafengehen zu machen (er machte seine Gymnastik am Abend und nicht beim Erwachen, um sich auch darin von der Plebs zu unterscheiden), aber an diesem Abend unterließ er das, um Ezequiel nicht zu stören. Der nervöse junge Mann hatte sich früh hingelegt, nachdem er eine herzhafte Kraftbrühe gegessen und versichert hatte, daß die Gegenwart von Don Sebastian ihn schon im voraus beruhigt habe und er bestimmt wie ein Murmeltier schlafen werde. Die Ereignisse dieser Nacht sollten sich nie mehr aus dem Gedächtnis des Edelmannes aus Ayacucho tilgen lassen. Im Wachen wie im Schlafen sollten sie ihn bis ans Ende seiner Tage bedrängen, und wer weiß, möglicherweise verfolgten sie ihn noch bis in sein nächstes Leben. Er hatte das Licht früh gelöscht, hatte im Nebenbett das langsame Atmen des sensiblen jungen Mannes gehört und gedacht: »Er ist eingeschlafen.« Er spürte, wie auch ihn der Schlaf übermannte, und hörte noch die Glocken der Kathedrale und das ferne Gelächter eines Betrunkenen. Dann schlief er ein und träumte genüßlich den angenehmsten und erhebendsten aller Träume: In einer hochgetürmten Burg voller Wappen, Pergamente, Wappen blumen und Stammbäume, die die Linie seiner Vorfahren bis hin
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