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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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stumm geworden (und man flüsterte sogar, verblödet). Er war unfähig, ein Wort zu sagen, er sah alles und alle mit der ausdruckslosen Lethargie einer Schildkröte an, und auch die Finger gehorchten ihm nicht, so daß er nicht einmal schriftlich die Fragen beantworten konnte (wollte?), die man ihm bei dem Prozeß gegen den zügellosen jungen Mann stellte.
    Der Prozeß nahm gewaltige Ausmaße an, und die Stadt der Könige hielt den Atem an, solange die Verhöre andauerten. Lima, Peru – vielleicht das ganze mestizische Amerika? – verfolgte leidenschaftlich die gerichtlichen Debatten, die Repliken und Gegenrepliken der Sachverständigen, der Staatsanwälte und des Verteidigers, eines berühmten Rechtskundigen, der extra aus der Marmorstadt Rom herbeigereist war, um Lucho Abril Marroquîn zu verteidigen, weil er mit einer Italienerin verheiratet war, die nicht nur seine Landsmännin, sondern obendrein seine Tochter war. Das Land spaltete sich in zwei Parteien. Die von der Unschuld des Arzneimittel vertreters überzeugten – alle Zeitungen – vermuteten, Don Sebastian sei beinahe ein Opfer seiner Frau und seiner Tochter geworden, die mit dem Richter aus Ancash, dem Pfarrer aus Cajatambo und den Krankenschwestern aus Huânuco, wahrscheinlich aus Erbschaftsgründen und Gewinnsucht, unter einer Decke steckten. Der römische Rechtsgelehrte vertrat diese These hoheitsvoll und versicherte, die Familie, der der friedfertige Schwachsinn von Lucho Abril Marroquîn bekannt gewesen sei, habe sich mit den Pensionsgästen verschworen, um ihm das Verbrechen in die Schuhe zu schieben (oder vielleicht ihn dazu anzustiften?). Er häufte Argument auf Argument, welche die Presseorgane aufblähten, mit Beifall überschütteten und als bewiesen hinstellten. Konnte jemand mit gesundem Menschenverstand glauben, daß ein Mann vierzehn, vielleicht fünfzehn Messerstiche in respektvollem Schweigen entgegennahm? Da Don Sebastian logischer weise vor Schmerz geschrien hatte, wie konnte da jemand mit gesundem Menschenverstand glauben, daß weder die Gattin noch die Tochter, noch der Richter, noch der Pfarrer, noch die Krankenschwestern diese Schreie gehört hatten, obwohl die Wände in der Pension Colonial aus Schilfrohr und Lehm waren, durch die sogar das Surren der Fliegen und das Kriechen eines Skorpions zu hören waren? Wie war es möglich, daß die Pensionsgäste aus Huânuco, die doch Schwesternschülerinnen mit sehr guten Zeugnissen waren, dem Verwundeten nicht Erste Hilfe hatten leisten können und statt dessen ungerührt auf die Ambulanz warteten, während der Edelmann verblutete? Wie war es möglich, daß keine der sechs erwachsenen Personen auf den selbst für einen Wahnsinnigen elementaren Gedanken gekommen war, ein Taxi zu rufen, als sie merkten, daß die Ambulanz auf sich warten ließ, obwohl die Taxis gleich an der Ecke hielten? War das nicht alles seltsam, verworren, bezeichnend? Nachdem er drei Monate in Lima festgehalten worden war, obgleich er nur für vier Tage in die Hauptstadt hatte fahren sollen, um einen neuen Christus für die Kirche seines Dorfes zu erbitten, weil der vorherige stückchenweise von den Holzwürmern geköpft worden war, erlitt der Pfarrer aus Cajatambo bei dem Gedanken, er könne wegen Mordversuchs verurteilt werden und müsse den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen, einen Herzanfall und starb. Sein Tod elektrisierte die öffentliche Meinung und hatte eine vernichtende Wirkung auf die Verteidigung. Die Zeitungen kehrten dem importierten Rechtsgelehrten jetzt den Rücken, beschuldigten ihn der Kasuistik, der Manipulation, des Kolonialismus und der Verdrehtheit, und außerdem habe er durch seine sibyllinischen und antichristlichen Unterstellungen den Tod eines guten Pastors verschuldet. Die Richter – Nachgiebigkeit von Zuckerrohr, das im journalistischen Winde tanzt – erklärten ihn als Ausländer für illegal und entzogen ihm das Recht, vor dem Tribunal zu sprechen, und in einem Akt, den die Zeitungen mit nationalistischem Jubel feierten, schickten sie ihn als unerwünschte Person nach Italien zurück.
    Der Tod des Pfarrers aus Cajatambo rettete die Mutter, die Tochter und die Hausgäste vor einer möglichen Verurteilung wegen versuchten Mordes und krimineller Verschwörung. Im Gleichschritt mit der Presse und der öffentlichen Meinung sympathisierte das Gericht wieder mit den Bergua und akzeptierte, wie zu Anfang, ihre Version der Ereignisse. Der neue Verteidiger von Lucho Abril Marroquîn,

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