Tante Julia und der Kunstschreiber
mexikanischen Dame unterbrochen wurde: »Jesus, Jesus, mir wird schlecht…«
Ich sah sie an, sie war ganz blaß, machte die Augen erregt auf und zu und bewegte den Mund auf höchst seltsame Weise, Aber das Erstaunlichste war die Reaktion des Wirtschaftswissenschaftlers und Historikers. Als er die Warnung vernahm, warf er mit einem verlegenen Gesichtsausdruck seiner Gattin und dann mir rasch einen Blick zu und schaute sofort wieder geradeaus, und statt stehenzubleiben, beschleunigte er seine Schritte. Die mexikanische Dame ging grimassenschneidend neben ihm her. Ich konnte gerade noch ihren Arm fassen, als sie in Ohnmacht fiel. Da sie zum Glück sehr leicht war, konnte ich sie halten und ihr helfen, während der bedeutende Mann mit großen Schritten floh und mir die delikate Aufgabe überließ, seine Frau mitzuschleifen. Die Menschen machten uns Platz, blieben stehen, um uns anzusehen, und dann hörte ich, wie ein Zigarettenverkäufer sagte – wir waren auf der Höhe des Kino Colön, und die kleine mexikanische Dame zog nicht nur Grimassen, sondern es lief ihr aus Mund, Nase und Augen –: »Sie pinkelt sich auch noch voll.« Tatsächlich, die Gattin des Wirtschaftswissenschaftlers und Historikers (der die Colmena überquerte und in Richtung auf den Eingang des Bolivar in der Menschenmenge verschwand) zog eine gelbe Spur hinter uns her. Als wir an der Ecke ankamen, blieb mir nichts anderes übrig, als sie auf den Arm zu nehmen, und so legten wir die letzten fünfzig Meter auffällig und galant zurück, zwischen hupenden Chauffeuren, pfeifenden Polizisten und Leuten, die auf uns zeigten. Auf meinem Arm wand sich die kleine mexikanische Dame unaufhörlich, verzog weiter ihr Gesicht, und mit Tast- und Geruchsinn glaubte ich zu bemerken, daß sie außer Pipi noch etwas viel Gräßlicheres machte. Ihre Kehle stieß von Zeit zu Zeit einen kümmerlichen Laut aus. Als ich ins Bolivar hineinging, befahl man mir trocken: »Zimmer 301.« Es war der bedeutende Mann. Er stand halb versteckt hinter einem Vorhang. Kaum hatte er mir den Befehl gegeben, verschwand er wieder mit schnellem Schritt auf den Fahrstuhl zu, und während wir hinauffuhren, ließ er sich nicht einmal dazu herab, mich oder seine Gefährtin anzusehen, als wollte er nicht unverschämt erscheinen. Der Fahrstuhlführer half mir die Dame in ihr Zimmer tragen. Aber kaum hatten wir sie auf das Bett gelegt, stieß uns der bedeutende Mann ohne ein Wort des Dankes oder des Abschieds buchstäblich zur Tür hinaus und knallte sie uns brutal vor der Nase zu; in diesem Augenblick hatte er einen bitteren Gesichtsausdruck.
»Er ist sicher kein schlechter Ehemann«, erklärte mir Pedro Camacho später, »er ist nur ein sensibler Mensch mit einem feinen Gefühl für das Peinliche.« An diesem Nachmittag sollte ich Tante Julia und Javier eine Erzählung vorlesen, die ich gerade geschrieben hatte: »Tante Eliana«. »El Comercio« druckte die Geschichte von den Schwebenden nie, und ich tröstete mich damit, eine andere Erzählung zu schreiben, die auf einer Begebenheit in der Familie basierte. Eliana war eine der vielen Tanten, die zu uns kamen, als ich noch ein Kind war, und ich mochte sie lieber als andere Tanten, weil sie mir Schokolade mitbrachte und mich manchmal zu einem Tee ins Cream Rica mitnahm. Ihre Vorliebe für Süßigkeiten gab Anlaß zu manchem Spott bei den Treffen des Familienclans, wo man behauptete, sie gebe ihr ganzes Sekretärinnengehalt für Cremeschnitten, knusprige Hörnchen, schaumige Torten und dicke Schokolade in La Tiendecita Bianca aus. Sie war eine herzliche, fröhliche, schwatzhafte kleine Dicke, und ich verteidigte sie, wenn man hinter ihrem Rücken in der Familie meinte, sie werde wohl später Kleider für die Heiligen nähen müssen. Eines Tages kam Tante Eliana geheimnisvollerweise nicht mehr zu uns, und die Familie erwähnte ihren Namen nie wieder. Ich muß damals sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein und erinnere mich, daß ich den Antworten der Verwandten auf meine Fragen nach ihr kein großes Vertrauen schenkte. Man sagte, sie sei verreist, sie sei krank, sie werde bald wiederkommen. Etwa fünf Jahre später trug die ganze Familie plötzlich Trauer, und an jenem Abend im Haus der Großeltern erfuhr ich, daß sie auf der Beerdigung von Tante Eliana gewesen waren, die an Krebs gestorben war. Da lüftete sich das Geheimnis. Tante Eliana hatte, als sie glaubte, sie sei dazu verurteilt, eine alte Jungfer zu bleiben, kurz entschlossen einen
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