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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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ein einheimischer Jurist, wechselte radikal die Taktik: Er gab zu, daß sein Klient die Verbrechen begangen habe, plädierte jedoch auf totale Unzurechnungsfähigkeit wegen Paropsie und anämischer Rachitis im Zusammenhang mit Schizophrenie und anderen Leiden im Bereich der Gehirnpathologie, die hervorragende Psychiater in einmütigen Aussagen belegten. So führte man als entscheidenden Beweis für die geistige Umnachtung an, daß der Angeklagte unter den vier Frauen in der Pension Colonial ausgerechnet die älteste, die einzige darüber hinaus, die hinkte, gewählt hatte. Während der letzten Beweisführung des Staatsanwalts – dramatischer Höhepunkt, der die Akteure vergöttlicht und dem Publikum kalte Schauer über den Rücken laufen läßt – erhob Don Sebastian, der bis dahin schweigend und triefäugig in seinem Stuhl gesessen hatte, als ginge ihn die Verhandlung nichts an, langsam die Hand, und mit vor Anstrengung, Zorn oder Beschämung geröteten Augen deutete er eine Minute lang (nach der Uhr, ein Journalist dixit) fest auf Lucho Abril Marroquîn. Die Geste wurde so hoch bewertet, als wäre das Reiterstandbild von Simon Bolivar losgaloppiert… Der Gerichtshof nahm alle Thesen des Staatsanwalts an, und Lucho Abril Marroquîn wurde in die Irrenanstalt gesperrt.
    Die Familie Bergua erholte sich nicht wieder. Der moralische und materielle Verfall begann. Von den Krankenhaus- und Prozeßkosten ruiniert, mußten sie auf die Klavierstunden verzichten (und damit auf die Hoffnung, aus Rosa eine weltberühmte Künstlerin zu machen) und ihren Lebensstandard bis auf das Minimum reduzieren, das an die schlechten Gewohnheiten wie Fasten und Unsauberkeit grenzt. Das alte Gebäude verkam noch weiter, Staub drang in das Gemäuer, Spinnweben überwucherten es, und Motten zerfraßen, was sie fanden; es kamen weniger Gäste, und sie verloren immer mehr an Niveau, bis es schließlich Dienstmädchen und Lastenträger waren. Man erreichte den Tiefpunkt, als eines Tages ein Bettler an die Tür klopfte und die schreckliche Frage stellte: »Ist hier das Nachtasyl Colonial?«
    So, Tag auf Tag, Monat auf Monat, waren dreißig Jahre vergangen.
    Die Familie Bergua schien sich an die Mittelmäßigkeit gewöhnt zu haben, als plötzlich etwas geschah – Atombombe, die eines Morgens japanische Städte zerfallen läßt –, was sie in Aufregung versetzte. Seit vielen Jahren ging das Radio nicht mehr, und seit ebenso vielen Jahren reichte das Haushaltsgeld nicht für eine Zeitung. Die Nachrichten aus aller Welt erreichten die Bergua daher nur selten und aus zweiter Hand, durch Kommentare und Klatsch ihrer ungebildeten Gäste. Aber an diesem Nachmittag, welch ein Zufall, lachte ein Lastwagenfahrer aus Castrovirreyna laut und vulgär auf, spuckte grün aus und murmelte: »Dieser Irre ist zum Schießen« und warf eine Ausgabe von »Ultima Hora« auf den zerkratzten Wohnzimmertisch. Die Expianistin nahm sie auf und blätterte darin. Plötzlich – Blässe einer Frau, die von einem Vampir geküßt wird – rannte sie in ihr Zimmer und schrie laut nach ihrer Mutter. Zusammen lasen sie sie abwechselnd und beinahe schreiend Don Sebastian vor, der ohne die geringsten Zweifel verstand, denn augenblicklich bekam er einen jener lärmenden Anfälle, die ihm Schluckaufs bereiteten und bei denen ihm der Schweiß ausbrach, er laut weinte und sich wie ein Besessener wand.
    Welche Meldung konnte eine solche Wirkung auf diese zu Grunde gehende Familie haben?
    Im Morgengrauen des Vortages hatte ein Insasse der psychiatrischen Klinik Victor Larco Herrera in Magdalena del Mär, der ein ganzes Lebensalter in diesen Mauern zugebracht hatte, einem Pfleger mit einem Skalpell die Kehle durchgeschnitten, einen katanonischen Greis erwürgt, der im Nebenraum schlief, und war in die Stadt geflohen, indem er überaus gelenkig über die Mauer der Costanera geklettert war. Sein Verhalten überraschte sehr, da er stets von vorbildlicher Friedfertigkeit gewesen war und niemals ein Zeichen von schlechter Laune zu erkennen gegeben hatte, niemals hatte man ihn schreien hören. Seine einzige Beschäftigung in dreißig Jahren hatte darin bestanden, eingebildete Messen für den HErrn von Limpias zu lesen und unsichtbare Hostien an nicht vorhandene Abendmahlsgäste auszuteilen. Bevor er aus der Anstalt floh, hatte Lucho Abril Marroquin – der das beste Mannesalter (fünfzig Jahre) erreicht hatte –, einen wohlerzogenen Abschiedsbrief geschrieben: »Es tut mir leid, aber ich muß

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