Tante Julia und der Kunstschreiber
Chinesen geheiratet, den Wirt einer Weinstube in Jesus Maria, und die Familie, angefangen bei ihren eigenen Eltern, hatten aus Angst vor einem Skandal – damals glaubte ich, der Skandal bestehe darin, daß ihr Mann Chinese war, aber heute nehme ich an, sein noch größerer Makel bestand darin, daß er Wirt war – sie zu Lebzeiten für tot erklärt und sie weder besucht noch bei sich empfangen. Aber als sie starb, verzieh man ihr – wir waren im Grunde eine gefühlvolle Familie –, ging zu ihrer Totenwache und auf die Beerdigung und vergoß ihretwegen viele Tränen. Meine Erzählung bestand aus dem Monolog eines Kindes, das im Bett liegend versucht, das Geheimnis um das Verschwinden der Tante zu lösen, mit einem Epilog von der Totenwache für die Heldin. Es war eine »sozialkritische« Erzählung, voller Zorn gegen die vorurteilsbeladene Verwandtschaft. Ich hatte sie in einigen Wochen geschrieben und Tante Julia und Javier so viel davon erzählt, daß sie nachgaben und mich baten, sie ihnen doch vorzulesen. Aber vorher, am Nachmittag jenes Montags, erzählte ich ihnen, was ich mit der kleinen mexikanischen Dame und mit dem bedeutenden Mann erlebt hatte. Das war ein Fehler, den ich teuer bezahlen mußte, denn diese Anekdote fanden sie sehr viel amüsanter als meine Erzählung. Es war zur Gewohnheit geworden, daß Tante Julia zu Radio Panamericana kam. Wir hatten entdeckt, daß dies das sicherste System war, da wir tatsächlich mit der Diskretion von Pascual und vom Großen Pablito rechnen konnten. Sie kam nach 5 Uhr, wenn die ruhigere Zeit begann. Die Genaros waren schon gegangen, und es kam kaum jemand zu uns herauf in den Dachverschlag. Meine Arbeitskollegen baten in stillschweigendem Einvernehmen, »auf ein Kaffeechen« fortgehen zu dürfen, so daß Tante Julia und ich allein waren, uns küssen und miteinander sprechen konnten. Manchmal schrieb ich, und sie las in einer Zeitschrift oder schwatzte mit Javier, der regelmäßig gegen 7 Uhr zu uns kam. Wir waren eine unzertrennliche Gruppe geworden, und meine Liebesgeschichte mit Tante Julia wurde in diesem Bretterstübchen zum Natürlichsten der Welt. Wir konnten uns an den Händen halten oder uns küssen, und niemand nahm daran Anstoß. Das machte uns glücklich. Die Schwelle des Verschlags nach innen überschreiten hieß frei, Herr über unsere Handlungen sein, wir konnten uns lieben, über das sprechen, was uns wichtig erschien, und fühlten uns von Verständnis umgeben. Sie nach außen überschreiten hieß sich in Feindesland begeben, wo wir gezwungen waren, zu lügen und uns zu verstecken.
»Könnte man sagen, dies ist unser Liebesnest?« fragte mich Tante Julia. »Oder ist das auch Kitsch?« »Natürlich ist das Kitsch, das kann man nicht sagen«, antwortete ich. »Aber wir könnten es Montmartre nennen.« Wir spielten Lehrer und Schülerin, und ich erklärte ihr, was kitschig war, was man weder sagen noch tun durfte, und hatte eine inquisitionsähnliche Zensur eingeführt, die ihr alle ihre Lieblingsautoren verbot, die bei Frank Yerby begannen und bei Corfn Tellado endeten. Wir amüsierten uns wahnsinnig, und manchmal griff Javier mit feuriger Dialektik in das Spiel um den Kitsch ein.
Der Lesung von »Tante Eliana« wohnten auch Pascual und der Große Pablito bei, weil sie oben waren und ich nicht wagte, sie fortzuschicken, zum Glück, denn sie waren die einzigen, die die Erzählung lobten, obwohl ihre Begeisterung, da sie meine Untergebenen waren, etwas verdächtig klang. Javier fand sie unrealistisch, niemand werde glauben, daß eine Familie ein Mädchen verdamme, nur weil es einen Chinesen geheiratet habe, und er versicherte mir, wenn der Mann schwarz wäre oder Indianer, könnte man die Erzählung retten. Tante Julia verpaßte mir den Todesstoß, indem sie sagte, die Erzählung sei melodramatisch ausgefallen, und einzelne Wörter wie ›zitternd‹ und ›schluchzend‹ hätten ziemlich kitschig geklungen. Ich begann »Tante Eliana« zu verteidigen, als ich die kleine Nancy in der Tür unseres Verschlages erscheinen sah. Man brauchte sie nur anzusehen, und man wußte, weshalb sie kam: »Jetzt ist in der Familie wirklich der Teufel los«, sagte sie sofort.
Pascual und der Große Pablito, einen guten Klatsch witternd, steckten die Köpfe vor. Ich bremste meine Cousine, bat Pascual, die 5»-Uhr-Nachrichten zu machen, und wir gingen hinunter, um einen Kaffee zu trinken. Im Bransa erzählte sie uns die Geschichte in allen Einzelheiten. Sie hatte, während
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