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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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bei ihm in der Pension gegessen hatten und daß ich ihm schon vorher von meinem Liebeskummer erzählt hatte und daß er mir geraten hatte, ihn mit Pflaumen und Fasten und anonymen Briefen zu kurieren. Ich tat es absichtlich und bestand dabei auf den Einzelheiten und beobachtete ihn. Er hörte mir ernst zu, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es ist nicht schlecht, durch solche Schwierigkeiten zu gehen«, sagte er und schlürfte seinen ersten Löffel von der Brühe. »Leiden erzieht.«
    Dann wechselte er das Thema. Er dozierte über die Kochkunst und die Notwendigkeit, nüchtern zu sein, um sich geistig gesund zu erhalten. Er versicherte mir, daß der Mißbrauch von Fetten, Kohlehydraten und Zucker die moralischen Grundsätze betäube und die Menschen für Laster und Verbrechen anfällig mache.
    »Machen Sie eine Aufstellung unter Ihren Bekannten«, riet er mir. »Sie werden sehen, daß die Entarteten vor allem unter den Dicken zu finden sind. Dagegen gibt es keine Mageren mit üblen Neigungen.«
    Obwohl er sich bemühte, darüber hinwegzutäuschen, sah ich, daß er sich unbehaglich fühlte. Er sprach nicht mit der gleichen Natürlichkeit und Überzeugungskraft wie sonst, sondern, das war ganz offensichtlich, nur vordergründig, abgelenkt durch Sorgen, die er zu verbergen suchte. In seinen hervorstehenden kleinen Augen lag ein unheilvoller Schatten, eine Angst, eine Scham, und hin und wieder biß er sich auf die Lippen. Seine lange Mähne strotzte von Schuppen, und an seinem Hals, der viel zu dünn war für das große Hemd, entdeckte ich eine kleine Medaille, die er gelegentlich mit zwei Fingern streichelte. Er zeigte sie mir und sagte: »Ein wundertätiger Herr, der HErr von Limpias.« Sein schwarzes Jackett hing ihm schlaff über den Schultern, und er sah blaß aus. Ich hatte beschlossen, die Hörspielserien nicht zu erwähnen, aber plötzlich, als ich merkte, daß er Tante Julia und unsere Gespräche über sie vergessen hatte, empfand ich eine ungesunde Neugier. Wir hatten die Bouillon mit Ei gegessen und warteten bei Brombeer-Chicha auf das Hauptgericht.
    »Heute morgen habe ich mit Genaro jun. über Sie gesprochen«, berichtete ich so unverfänglich wie möglich. »Eine gute Nachricht: den Umfragen der Werbeagenturen nach haben Ihre Hörspielserien wieder höhere Einschalt quoten erzielt. Sogar die Steine hören Ihnen zu.«
    Ich merkte, daß er steif wurde, den Blick abwandte, die Serviette zusammenrollte und sehr schnell mit den Wimpern zuckte. Ich wußte nicht, ob ich fortfahren oder das Thema wechseln sollte, aber meine Neugier war stärker: »Genaro jun. glaubt, daß die Steigerung der Einschaltquoten auf die Idee zurückzuführen ist, die Personen von einem Hörspiel ins andere überwechseln zu lassen, die Geschichten miteinander zu verbinden«, sagte ich und sah, daß er die Serviette losließ, mich mit den Augen suchte und ganz weiß wurde. »Es erscheint ihm genial.«
    Da er nichts sagte und mich nur ansah, sprach ich weiter und spürte, wie sich meine Zunge verhedderte. Ich sprach von der Avantgarde, von den Experimenten, zitierte oder erfand Autoren, die, so versicherte ich ihm, eine Sensation in Europa waren, weil sie ganz ähnliche Neuerungen einführten: sie veränderten die Identitäten der Personen im Verlauf der Geschichte und simulierten Unstimmigkeiten, um den Leser in Spannung zu halten. Man hatte die pürierten Bohnen gebracht, und ich begann zu essen. Ich war glücklich, endlich schweigen zu können, um die Verlegenheit des bolivianischen Schreibers nicht mehr mitansehen zu müssen. Eine ganze Weile schwiegen wir. Ich aß, er stocherte mit der Gabel in seinem Bohnenpüree und den Reiskörnern.
    »Mir passiert etwas sehr Lästiges«, hörte ich ihn schließlich sehr leise wie zu sich selbst sagen. »Ich habe nicht mehr den rechten Überblick über die Hörspielmanuskripte, ich zweifle,, und Verwirrungen schleichen sich ein.“ Er sah mich beschämt an. »Ich weiß, Sie sind ein loyaler junger Mann, ein Freund, dem man vertrauen kann. Kein Wort zu den Krämerseelen.« Ich täuschte Überraschung vor, widersprach ihm herzlich. Er war wie ausgewechselt, war äußerst beunruhigt, unsicher, zerbrechlich, und Schweiß glänzte auf seiner grünlichen Stirn. Er griff sich an die Schläfen: »Das ist ein Vulkan von Ideen«, versicherte er. »Verräterisch ist nur das Gedächtnis. Ich meine die Namen. Ganz im Vertrauen, lieber Freund, ich bringe sie nicht durcheinander, sie tun es selbst. Wenn ich es

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