Tante Julia und der Kunstschreiber
und großzügig, im Nieselregen in der leeren Straße verloren.
Diese Nacht verbrachte ich, ohne ein Auge zuzutun. Wie gewohnt fand ich im Haus der Großeltern das Abendessen zugedeckt für mich bereitgestellt, aber ich aß keinen Bissen (und damit die Großmutter sich nicht beunruhige, warf ich die Pastete mit Reis in den Abfalleimer). Die alten Leutchen waren schon im Bett, aber noch wach, und als ich zu ihnen hineinging, um ihnen einen Kuß zu geben, erforschte ich sie wie ein Detektiv und versuchte in ihren Gesichtern die Sorge über mein skandalöses Liebesleben zu entdecken. Nichts, kein einziges Anzeichen. Sie waren herzlich und liebevoll, und der Großvater fragte mich nach einem Begriff für das Kreuzworträtsel. Aber sie teilten mir die gute Nachricht mit, daß meine Mutter geschrieben habe, daß sie und mein Vater bald nach Lima kämen, um Ferien zu machen. Sie würden das Datum ihrer Ankunft noch schreiben. Sie konnten mir den Brief nicht zeigen, weil irgendeine Tante den Brief mitgenommen hatte. Das war bestimmt die Folge der verräterischen Briefe. Mein Vater wird gesagt haben: »Wir fahren nach Peru und bringen die Dinge in Ordnung.« Und meine Mutter: »Wie konnte Julia nur so etwas tun?« (Tante Julia und sie waren Freundinnen gewesen, als meine Familie in Bolivien lebte und ich meinen Verstand noch nicht gebrauchen konnte.)
Ich schlief in einem kleinen mit Büchern, Koffern und Kisten vollgestopften Zimmer, wo die Großeltern ihre Andenken aufbewahrten, viele Photos aus den Zeiten ihres dahingeschmolzenen Wohlstands, als sie noch eine Baumwollplantage in Camanâ besaßen, als der Großvater Pionierfarmer in Santa Cruz de la Sierra war, als er Konsul in Cochabamba oder Präfekt in Piura war. Im Dunkeln lag ich auf dem Rücken in meinem Bett, dachte viel an Tante Julia und daran, daß man uns früher oder später ganz bestimmt trennen würde. Das machte mich sehr zornig, und ich fand alles dumm und gemein, und ganz plötzlich sah ich das Bild von Pedro Camacho vor mir. Ich dachte an die Telephongespräche von Tanten, Onkeln, Vettern und Cousinen über mich und Tante Julia und fing an, die Anrufe der Hörer mitzuhören, die über die Personen verwirrt waren, die die Namen wechselten und vom Hörspiel um 3 Uhr in das um 5 Uhr sprangen, und über die Episoden, die sich ineinander verschlangen wie Urwaldpflanzen, und bemühte mich, mir vorzustellen, was in dem verworrenen Gehirn des Schreibers vorgehen mochte. Aber ich mußte nicht darüber lachen, im Gegenteil, ich war gerührt bei dem Gedanken an die Schauspieler von Radio Central, die sich mit den Tontechnikern, den Sekretärinnen und den Pförtnern zusammengetan hatten, um die Anrufe abzufangen und den Künstler vor der
Entlassung zu bewahren. Es rührte mich, daß Luciano Pando, Josefina Sanchez und Batân gedacht hatten, ich, das fünfte Rad am Wagen, könne die Genaros beeinflussen. Wie gering mußten sie sich selbst einschätzen, wie wenig mußten sie verdienen, daß ich ihnen bedeutend vorkam. Manchmal spürte ich ein unwiderstehliches Verlangen danach, Tante Julia zu sehen, sie zu berühren, zu küssen. So sah ich es schließlich hell werden und hörte die Hunde im Morgengrauen bellen. Ich war etwas früher als gewöhnlich in meinem Dachverschlag von Radio Panamericana, und als Pascual und der Große Pablito um 8 Uhr erschienen, hatte ich bereits die Nachrichten vorbereitet und alle Zeitungen gelesen, hatte angestrichen und umkringelt (für das Plagiat). Während ich alle diese Dinge tat, sah ich immer wieder auf die Uhr. Tante Julia rief mich pünktlich zur vereinbarten Stunde an:
»Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan«, flüsterte sie mit versagender Stimme. »Ich liebe dich so sehr, Varguitas.« »Ich dich auch, von ganzem Herzen«, flüsterte ich und wurde ungehalten, als ich merkte, daß Pascual und der Große Pablito näherrückten, um besser hören zu können. »Ich habe auch nicht geschlafen und habe die ganze Zeit an dich gedacht.« »Du kannst dir nicht vorstellen, wie liebenswürdig meine Schwester und mein Schwager zu mir waren“, sagte Tante Julia. »Wir haben zusammen Karten gespielt. Es kostet mich einige Mühe zu glauben, daß sie etwas wissen und gegen uns konspirieren.«
»Aber sie tun es«, berichtete ich. »Meine Eltern haben geschrieben, daß sie nach Lima kommen. Das kann nur aus diesem Grund sein. In dieser Jahreszeit reisen sie sonst nie.« Sie schwieg, und ich erriet ihren traurigen, zornigen, enttäuschten
Weitere Kostenlose Bücher