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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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erschien mir nicht ausgeschlossen und gefiel mir wegen ihres romanhaften Charakters. Wenn die Familie, wie ganz sicher zu erwarten war, mich suchen ließ, mich fand und in die Heimat zurückbrachte, würde ich wieder ausreißen; so oft es erforderlich wäre, und so würde es weitergehen, bis ich die sehnsüchtig erwarteten, befreienden einundzwanzig Jahre erreicht hätte. Die dritte Möglichkeit war, mich umzubringen und einen wohlgesetzten Brief zu hinterlassen, um meine Verwandten mit Gewissensbissen zu quälen. Sehr früh am nächsten Tag lief ich zur Pension von Javier. Wir gingen jeden Morgen, während er sich rasierte und duschte, die Ereignisse des Vortages durch und machten den Aktionsplan für den jeweiligen Tag. Ich saß auf der Toilette, sah ihm beim Rasieren zu und las ihm aus dem Heft vor, worin ich mit Kommentaren am Rande die Möglichkeiten meines Schicksals zusammengefaßt hatte. Während er sich einseifte, bat er mich inständig, die Reihenfolge zu ändern und den Selbstmord an den Anfang zu setzen:
    »Wenn du dich umbringst, werden die Schmierereien, die du geschrieben hast, interessant, die morbiden Menschen werden sie lesen wollen, und es wird sehr leicht sein, sie zu publizieren.“ Er überzeugte mich, während er sich wie wild abtrocknete. »Du wirst, wenn auch postum, ein Schriftsteller.«
    »Deinetwegen werde ich die Nachrichten verpassen«, drängte ich. »Hör auf, Cantinflas zu spielen, dein Humor macht mir verdammt keinen Spaß.«
    »Wenn du dich umbringst, würde ich nicht so oft bei meiner Arbeit und in der Universität fehlen«, fuhr Javier fort, während er sich anzog. »Ideal wäre es, du tätest es noch heute, jetzt, heute morgen. Auf diese Weise erspartest du mir, meine Sachen zu versetzen, die natürlich versteigert werden, denn, glaubst du wirklich, du wirst mir das Geld eines Tages zurückgeben?« Und schon auf der Straße, während wir zur Haltestelle trabten, sagte er, wobei er sich für einen vortrefflichen Humoristen hielt: »Und schließlich, wenn du dich umbringst, wirst du berühmt, und mit deinem besten Freund, deinem Vertrauten, dem Zeugen deiner Tragödie, wird man Reportagen machen, und sein Bild wird in der Zeitung erscheinen. Glaubst du, Cousine Nancy würde von soviel Berühmtheit nicht weich?« In dem Pfandhaus auf der Plaza de Armas versetzten wir meine Schreibmaschine und sein Radio, meine Uhr und seine Federhalter, und schließlich überredete ich ihn, auch seine Uhr zu versetzen. Obwohl wir wie die Wölfe handelten, bekamen wir nur 2.000 Sol. An den Tagen vorher hatte ich, ohne daß die Großeltern etwas merkten, bei den Altwarenhändlern in der Calle La Paz Anzüge, Schuhe, Hemden, Krawatten, Jacken verkauft, bis ich praktisch nur noch das hatte, was ich auf dem Leib trug. Aber die Auflösung meines Kleiderschrankes brachte kaum 400 Soi. Dagegen hatte ich mehr Glück gehabt bei dem fortschrittlichen Unternehmer, den ich nach einer dramatischen halben Stunde dazu überredete, mir vier Monatslöhne vorzuschießen, die er mir im Lauf eines Jahres abziehen sollte. Das Gespräch hatte ein unerwartetes Ende. Ich schwor ihm, daß dieses Geld für eine äußerst dringende Bruchoperation meiner Großmutter sei, und konnte ihn nicht erweichen. Aber plötzlich sagte er: »Schön.« Mit einem freundschaftlichen Lächeln fügte er hinzu: »Gib zu, es ist für eine Abtreibung bei einem Mädchen.« Ich senkte den Blick und bat ihn, das Geheimnis für sich zu behalten.
    Als er meine Enttäuschung sah über das wenige Geld, das wir im Pfandhaus erhielten, begleitete Javier mich bis zum Sender. Wir verabredeten, daß wir in unseren jeweiligen Arbeitsstellen um Erlaubnis bitten würden, an diesem Nachmittag nach Hu-acho zu fahren. Vielleicht waren die Bürgermeister in der Provinz etwas gefühlvoller. Ich kam in den Verschlag, als das Telephon klingelte. Tante Julia war fuchsteufelswild. Am Abend waren Tante Hortensia und Onkel Alejandro zu Onkel Lucho gekommen und hatten ihren Gruß nicht erwidert. »Sie haben mich mit olympischer Verachtung gestraft, es fehlte nur noch, daß sie H … zu mir gesagt hätten«, erzählte sie mir ent-. rüstet. »Ich mußte mir auf die Lippen beißen, um sie nicht, du weißt schon wohin, zu schicken. Ich habe es meiner Schwester wegen getan, aber auch unsertwegen, um die Dinge nicht noch komplizierter zu machen. Wie läuft alles, Varguitas?« »Am Montag, gleich früh«, versicherte ich ihr. »Du mußt sagen, daß du den Flug nach La Paz um

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