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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Loch unter Klaustrophobie litt, sicher hätte er mir geantwortet, der Kunst bekomme die Unbequemlichkeit. Statt dessen lud ich ihn zu einem Kaffee ein. Er konsultierte ein prähistorisches Kunstwerk, das an seinem schmalen Handgelenk schlackerte, und murmelte: »Nach eineinhalb Stunden Produktion habe ich eine Erfrischung verdient.“
    Auf dem Weg ins Bransa fragte ich ihn, ob er immer so früh mit der Arbeit anfange, und er erwiderte, anders als bei anderen »Schöpfern« sei in seinem Fall die Inspiration dem Tageslicht proportional. »Sie erwacht mit der Sonne und wird mit ihr warm«, erklärte er mir klangvoll, während ein verschlafener Bursche die Sägespäne mit den Zigarettenstummeln und dem Schmutz des Bransa um uns herum fegte. »Ich beginne mit dem ersten Tageslicht zu schreiben, mittags ist mein Gehirn wie eine Fackel, dann verliert es nach und nach an Feuer, und wenn es dunkel wird, höre ich auf, weil nur noch Glut zurückgeblieben ist. Aber das macht nichts, denn am Abend und in der Nacht arbeitet der Schauspieler am besten. Ich habe mein System gut eingeteilt.“
    Er sprach viel zu ernst, und ich merkte bald, daß es ihm kaum bewußt war, daß ich noch da war; er gehörte zu den Menschen, die keine Gesprächspartner zulassen, sondern nur Zuhörer. Wie beim ersten Mal überraschte mich seine absolute Humorlosigkeit, trotz des puppenhaften Lächelns – die Lippen hochgezogen, die Stirn gekräuselt, die Zähne hervortretend –, mit der er seine Monologe abrundete. Er sagte alles mit außerordentlicher Feierlichkeit. Das gab ihm, zusammen mit der perfekten Diktion, seinem Aussehen, seiner extravaganten Kleidung und seinen theatralischen Gesten eine schreckliche Absonderlichkeit. Ganz offensichtlich glaubte er Wort für Wort von dem, was er sagte. Er war der affektierteste und gleichzeitig ehrlichste Mann, den ich je gesehen hatte. Ich versuchte ihn von den künstlerischen Höhen herunterzuholen, von denen er über die Mittelmäßigkeit der praktischen Dinge dozierte, und fragte ihn, ob er sich schon eingelebt, ob er hier Freunde habe, wie ihm Lima gefalle. Diese irdischen Themen interessierten ihn überhaupt nicht. Mit einer ungeduldigen Bewegung antwortete er, er habe am Jirón de Quilca ein »Atelier« gefunden, nicht weit von Radio Central entfernt, und er fühle sich überall wohl, denn sei die Heimat der Kunst nicht die Welt? Statt eines Kaffees bestellte er einen Tee aus Kamille und Pfefferminz, der nicht nur dem Gaumen angenehm sei, sondern »den Geist einstimme«, belehrte er mich. Er schlürfte ihn in kurzen, gleichmäßigen Schlucken, so als würde er die Zeit genau abmessen, zu der er die Tasse an den Mund heben mußte, und kaum war er fertig, erhob er sich, bestand darauf, daß jeder für sich bezahle, und bat mich, ihn zu begleiten, um einen Stadplan mit den verschiedenen Vierteln und Straßen von Lima zu kaufen. Wir fanden, was er suchte, in einem Bauchladen auf dem Jirón de la Union. Er studierte den aufgeschlagenen Plan und lobte befriedigt die Farben, die die verschiedenen Distrikte unterschieden. Dann verlangte er eine Quittung über die zwanzig Soi, die der Plan gekostet hatte.
    »Dies ist ein Arbeitsinstrument, und diese Krämerseelen haben ihn mir zu bezahlen«, erklärte er, während wir zu unseren Arbeitsplätzen zurückkehrten. Auch sein Gang war eigenartig, schnell und nervös, als fürchte er einen Zug zu verpassen. Als wir uns im Eingang von Radio Central verabschiedeten, wies er, wie jemand, der einen Palast zeigt, auf sein viel zu enges Büro: »Es ist praktisch auf der Straße«, sagte er, mit sich selbst und den Umständen zufrieden, »so, als arbeitete ich direkt auf dem Bürgersteig.«
    »Lenkt Sie der Lärm der Leute und der Autos nicht ab?« wagte ich zu fragen.
    »Im Gegenteil«, beruhigte er mich, entzückt darüber, mich mit einer abschließenden Formel beglücken zu können: »Ich schreibe über das Leben, und meine Werke verlangen den direkten Einfluß der Realität.«
    Ich wollte gehen, als er mich mit dem Zeigefinger zurückwinkte. Er wies auf den Plan von Lima und bat mich geheimnisvoll, ihm später oder am folgenden Tag einige Auskünfte zu erteilen. Ich sagte, es werde mir ein Vergnügen sein. In meinem Dachverschlag von Panamericana traf ich Pascual, der die 9-Uhr-Nachrichten fertiggemacht hatte. Sie begannen mit einer seiner Lieblingsmeldungen. Er hatte sie aus »La Cronica« abgeschrieben und mit Adjektiven aus seinem eigenen Wortschatz angereichert: »Im

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