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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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blutunterlaufenen Augen hatten Alkohol und Wut in gleichem Maße zugenommen. Zwei Speichelfäden hingen ihm von den Lippen, und sein Gesichtsausdruck war bemitleidenswert und grotesk.
    »Das ist doch nicht möglich, Richard«, murmelte Dr. Quinteros, beugte sich zu ihm hinunter und versuchte, seinen Neffen aufzurichten. »Die Eltern dürfen dich so nicht sehen. Komm, wir gehen zur mir nach Hause, bis es dir besser geht. Ich hätte nie gedacht, ich würde dich einmal in solchem Zustand sehen, Junge.“
    Richard sah ihn an, ohne ihn zu sehen. Sein Kopf hing herunter, und obwohl er gehorsam versuchte, sich aufzurichten, versagten ihm die Beine den Dienst. Der Arzt mußte ihn an beiden Armen packen und beinahe tragen. Beim Gehen hielt er ihn an den Schultern. Richard taumelte wie eine Stoffpuppe und drohte jeden Augenblick der Länge nach hinzuschlagen. »Vielleicht finden wir ein Taxi«, murmelte der Arzt, blieb am Bordstein der Avenida Santa Cruz stehen und hielt Richard mit einem Arm fest. »Wenn wir gehen, kommst du nicht bis zur nächsten Ecke.« Einige Taxis kamen vorbei, aber sie waren besetzt. Der Arzt hielt die Hand erhoben. Das Warten und die Erinnerung an Elianita und Antûnez und die Besorgnis über den Zustand seines Neffen fingen an, ihn nervös zu machen, ihn, der noch nie die Ruhe verloren hatte. In diesem Augenblick verstand er aus dem unzusammen hängenden und sehr leisen Gemurmel, das aus Richards Mund drang, das Wort Revolver. Er mußte lächeln, und gute Miene zum bösen Spiel machend, meinte er wie zu sich selbst, ohne zu erwarten, daß Richard ihm zuhöre oder gar antworte: »Wozu brauchst du einen Revolver?«
    Richards Antwort kam langsam, heiser, aber sehr deutlich. Dabei starrte er mit irrem, mörderischem Blick ins Leere: »Den Rothaarigen Antûnez erschießen.« Er hatte jede Silbe mit eisigem Haß ausgesprochen, machte eine Pause und fügte mit plötzlich gebrochener Stimme hinzu: »Oder mich selbst.« Die Zunge gehorchte ihm nicht mehr, und Alberto de Quinteros verstand nicht mehr, was er sagte. In diesem Augenblick hielt ein Taxi. Der Arzt schob Richard in den Wagen, nannte dem Fahrer die Adresse und stieg selbst ein. Als der Wagen anfuhr, fing Richard an zu weinen. Er wandte sich ihm zu, und der Junge ließ sich gegen ihn sinken, legte ihm den Kopf auf die Brust und schluchzte. Sein ganzer Körper wurde von nervösem Zittern erfaßt. Der Arzt streichelte ihm über die Schulter, strich ihm mit der Hand über das Haar, wie er es kurz vorher bei seiner Schwester getan hatte, und mit einer Geste, die sagen wollte, »der Junge hat zuviel getrunken«, beruhigte er den Fahrer, der ihn durch den Rückspiegel beobachtete. Er ließ Richard in seinem Arm weinen und seinen blauen Anzug und die silbergraue Krawatte mit Tränen und Speichel beschmutzen. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, auch klopfte sein Herz nicht heftiger, als er in dem unverständlichen Selbstgespräch seines Neffen zwei- oder dreimal wiederholt den Satz verstehen konnte, der schön und rein klang, ohne daß er dadurch weniger fürchterlich gewesen wäre: »Denn ich liebe sie wie ein Mann, und nichts, gar nichts sonst interessiert mich, Onkel.« Im Garten seines Hauses erbrach sich Richard in gewaltigen Kaskaden, die den Terrier erschreckten und von dem Majordomus und dem Mädchen mit mißbilligenden Blicken bedacht wurden. Dr. Quinteros führte Richard am Arm ins Gästezimmer, ließ ihn sich den Mund spülen, zog ihn aus, brachte ihn ins Bett, ließ ihn ein starkes Schlafmittel schlucken, blieb an seiner Seite sitzen und beruhigte ihn mit herzlichen Worten und Gesten, obwohl er wußte, daß der Junge weder hörte noch sah, bis er spürte, daß er den tiefen Schlaf der Jugend schlief. Dann rief er in der Klinik an und sagte dem diensthabenden Arzt, daß er erst morgen kommen werde, es sei denn, eine Katastrophe geschähe, sagte dem Majordomus, er sei für niemanden zu sprechen, gönnte sich einen doppelten Whisky und schloß sich in seinem Musikzimmer ein. Auf den Plattenspieler legte er einen Stapel mit Stücken von Albinoni, Vivaldi und Scarlatti, denn er hatte entschieden, daß ein paar venezianischbarock-oberflächliche Stunden das beste Mittel gegen die schwarzen Schatten auf seinem Gemüt seien, und versunken in die weiche Wärme seines Ledersessels, die rauchende Meerschaumpfeife zwischen den Lippen, schloß er die Augen und wartete darauf, daß die Musik ihr unausbleibliches Wunder vollbrächte. Er dachte, dies sei eine

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