Tante Julia und der Kunstschreiber
Hörspielserien des kubanischen CMQ waren oft in einer lärmend-vergnügten Atmosphäre aufgenommen worden, die Sprecher hatten sich, während sie sprachen, Fratzen geschnitten und sich über sich selbst lustig gemacht. Jetzt hatte man den Eindruck, wenn einer einen Witz gemacht hätte, würden die anderen sich auf ihn gestürzt haben, um ihn wegen Gotteslästerung zu strafen. Einen Augenblick lang dachte ich, sie simulierten vielleicht aus Servilität dem Chef gegenüber, um nicht wie die Argentinier ausgemerzt zu werden, im Grunde seien sie nicht so sicher wie er, »Priester der Kunst« zu sein, doch ich irrte mich. Auf dem Weg zurück zu Radio Panamericana ging ich ein Stück der Calle Belén mit Josefina Sânchez, die sich zwischen zwei Hörspielen zu Hause einen Tee kochen wollte, und ich fragte sie, ob der bolivianische Schreiber vor jeder Aufnahme diese Vorrede hielt, oder ob dies etwas Besonderes gewesen sei. Sie sah mich voller Verachtung, die ihre Wangen erzittern ließ, an: »Heute hat er nur wenig gesagt, er war nicht inspiriert. Manchmal greift es einem ans Herz, wenn man bedenkt, daß diese Gedanken der Nachwelt nicht erhalten bleiben.“
Ich fragte sie, die »so große Erfahrung« habe, ob sie wirklich glaube, daß Pedro Camacho ein großes Talent sei. Sie zögerte einen Augenblick, um die richtigen Worte für ihre Gedanken zu finden: »Dieser Mann heiligt den Künstlerberuf.«
VI
An einem strahlenden Sommermorgen betrat tadellos gekleidet und pünktlich, wie es seine Gewohnheit war, Dr. jur. Pedro Barreda y Zaldîvar sein Büro, als Untersu chungs richter der ersten Strafkammer des Obersten Gerichtshofs von Lima. Er war ein Mann, der die Blüte seiner Jahre, nämlich die Fünfzig, erreicht hatte, und in seiner Person – breite Stirn, Adlernase, durchdringender Blick von Güte und aufrechter Gesinnung –zeichnete sich seine ethische Reinheit in einer Haltung ab, die ihm sofort die Hochachtung aller Menschen sicherte. Er kleidete sich mit der Bescheidenheit eines Richters mit magerem Gehalt, der absolut unbestechlich ist, jedoch mit einer Korrektheit, die ihm eine gewisse Eleganz verlieh. Der Justizpalast begann sich nach seiner nächtlichen Ruhepause zu beleben, und das Gebäude füllte sich mit einer geschäftigen Menge aus Anwälten, Winkeladvokaten, Boten, Klägern, Notaren, Testamentsvollstreckern, Referendaren und Neugierigen. Im Herzen dieses Bienenstockes öffnete Dr. jur. Barreda y Zaldîvar sein Köfferchen, nahm zwei Akten heraus, setzte sich an seinen Schreibtisch und machte sich bereit, den Tag zu beginnen. Sekunden später – schnell, lautlos wie ein Meteorit im Weltraum – tauchte sein Sekretär, Dr. Zelaya, in seinem Büro auf, ein Männlein mit Brille und einem winzigen Schnurrbart, der sich beim Sprechen rhythmisch bewegte.
»Einen schönen guten Tag, Herr Doktor«, grüßte er und machte dabei eine Verbeugung wie ein Scharnier. »Das gleiche Ihnen, Zelaya«, lächelte Dr. jur. Barreda y Zaldîvar liebenswürdig. »Was bringt uns dieser Morgen?« »Notzucht, begangen an einer Minderjährigen, seelische Grausamkeit kommt erschwerend hinzu.« Der Sekretär legte eine ziemlich dicke Akte auf den Schreibtisch. »Der Angeklagte, ein Mann aus Victoria von höchst verdäch tigem Aussehen, leugnet die Tat. Die Hauptzeugen warten auf dem Flur.« »Bevor ich sie anhöre, muß ich den Polizeibericht und die Zivilklage lesen«, erinnerte ihn der Untersuchungsrichter. »Sie werden so lange warten, wie es nötig ist«, erwiderte der Sekretär und verließ das Büro.
Unter seiner festen juristischen Schale hatte Dr. jur. Barreda y Zaldivar die Seele eines Dichters. Eine Lesung der eisigen juristischen Dokumente genügte ihm, um die rhetorische Hülle von Klauseln und Küchenlatein zu lösen und mit seiner Vorstellungskraft auf die Tatsachen zu stoßen. So rekonstruierte er rasch mit allen Einzelheiten die Anzeige, während er den in Victoria aufgesetzten Bericht las. Er sah das dreizehnjährige Mädchen, Schülerin der Unidad Escolar Mercedes Cabello de Carboneda mit Namen Sarita Huanca Salaverrfa, am vorigen Montag die Polizeiwache dieses bunten und vielschichtigen Stadtteils betreten. Sie kam weinend und mit blauen Flecken im Gesicht, auf den Armen und Beinen in Begleitung ihrer Eltern, Don Casimiro Huanca Padrön und Dona Catalina Salaverria Melgar. Die Minderjährige war am Vorabend in dem Wohnblock Nr. 12, an der Avenida Luna Pizarro, vierter Stock, Zimmer H, von dem
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