Tante Julia und der Kunstschreiber
zu verwenden oder auf irgend etwas, was ihn von »seiner Kunst« ablenkte, besser gesagt, von seiner Arbeit oder seinem Laster, diesem Zwang, der Menschen, Dinge, Gelüste beiseite fegte; obwohl er mich tatsächlich eher duldete als andere. Wir tranken zusammen Kaffee (er Pfefferminztee mit Kamille), ich ging in seine Kammer und diente ihm als Pause zwischen zwei Seiten. Ich hörte ihm mit höchster Aufmerksamkeit zu, und vielleicht schmeichelte ihm das; vielleicht hielt er mich für einen Schüler, oder ich war für ihn ganz einfach das, was ein Schoßhündchen für die alte Jungfer oder das Kreuzworträtsel für einen Rentner ist: jemand, etwas, mit dem man Leerzeiten ausfüllt.
Drei Dinge faszinierten mich an Pedro Camacho: Was er sagte, die Strenge seines ganz und gar einer Obsession hingegebenen Lebens und seine Arbeitskapazität. Vor allem das letzte. In der Biographie von Emil Ludwig hatte ich von der Widerstandsfähigkeit Napoleons gelesen, wie seine Sekretäre umfielen und er immer weiterdiktierte, und ich pflegte mir den Kaiser der Franzosen mit dem scharfnasigen Gesicht des Schreibers vorzustellen, und Javier und ich nannten ihn eine Zeitlang den Napoleon vom Altiplano (ein Name, den wir abwechselnd mit kreolischer Balzac* benutzten). Aus Neugier gelang es mir, seinen Tagesablauf zusammenzustellen, und obwohl ich ihn immer wieder überprüfte, erschien er mir vollkommen unmöglich: Pedro Camacho begann mit vier Hörspielen täglich. Aber wegen seines Erfolges erhöhte er die Anzahl auf zehn, die von Montag bis Sonntag gesendet wurden. Jedes Kapitel dauerte eine halbe Stunde (genau dreiundzwanzig Minuten, sieben Minuten gingen an die Werbung). Da er sie alle leitete und selbst mitlas, mußte er sieben Stunden täglich im Studio sein, wenn man für Probe und Aufnahme jedes Programms vierzig Minuten ansetzte (zwischen zehn und fünfzehn Minuten für seine Vorrede und die Wiederholung). Er schrieb die Hörspiele der Reihe nach, wie sie gesendet wurden; ich stellte fest, daß er für jedes Kapitel kaum das Doppelte der Sendezeit brauchte, also eine Stunde. Das bedeutete aber auf jeden Fall, daß er ungefähr zehn Stunden an der Schreibmaschine saß. Durch die Sonntage, seine freien Tage, verringerte sich die Zeit ein wenig, da er sie natürlich in seiner Kammer verbrachte, um für die Woche vorzuarbeiten. Seine Arbeitszeit lag also zwischen fünfzehn und sechzehn Stunden pro Tag von Montag bis Sonnabend und von 8 bis 10 Uhr am Sonntag, und praktisch alle waren produktiv mit beachtlichem »künstlerischem Ergebnis«. Um 8 Uhr morgens erschien er in Radio Central und ging etwa um Mitternacht; seine einzigen Ausgänge auf die Straße machte er mit mir zum Bransa, wo er seinen zerebralen Tee trank. Er aß in seiner Kammer ein Sandwich und nahm eine Erfrischung, die ihm Jesusito, der Große Pablito oder irgendeiner seiner Mitarbeiter unterwürfig kaufen ging. Niemals nahm er eine Einladung an, niemals hatte ich gehört, daß er im Kino, im Theater, bei einem Fußballspiel oder auf einem Fest gewesen sei. Niemals sah ich ihn ein Buch, eine Zeitschrift oder eine Zeitung lesen, außer diesen Zitatenschinken und jene Stadtpläne, die zu seinen »Arbeitsinstrumenten« gehörten. Das stimmte nicht ganz: eines Tages entdeckte ich bei ihm das Nachrichtenblatt des Club Na-cional.
»Ich habe den Portier mit ein bißchen Kleingeld bestochen«, erklärte er mir, als ich ihn wegen des Heftes fragte. »Woher soll ich die Namen meiner Aristokraten nehmen? Für die anderen genügen meine Ohren, die Plebejer hole ich mir aus der Gosse.«
Die Herstellung der Hörspielserien, die eine Stunde, in der er jedes Manuskript schrieb, ohne steckenzubleiben, versetzte mich immer wieder in ungläubiges Staunen. Ich sah ihn oft diese Kapitel niederschreiben. Im Gegensatz zu dem, was bei der Aufnahme geschah, deren Geheimnis er eifersüchtig hütete, machte es ihm nichts aus, wenn man ihm beim Schreiben zusah. Während er auf, seiner (meiner) Remington tippte, kamen seine Schauspieler, Batân oder der Tontechniker herein. Er hob den Blick, beantwortete Fragen, gab eine geschnörkelte Anweisung, verabschiedete den Besucher mit einem epidermischen Lächeln – ein dem Lachen unähnlicheres Lächeln habe ich nie gesehen – und schrieb weiter. Unter dem Vorwand zu lernen, pflegte ich mich in die Kammer zu begeben, in meinem Hühnerstall seien zuviel Lärm und zuviele Leute (Ich lernte meine Juratexte für die Examen und vergaß alles, sobald ich
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