Tante Lisbeth (German Edition)
Studentenviertel, Clodia Chardin. Den Theatervornamen hat ihr der Bruder gegeben. Weil sich der Kerl einbildet, Vater Thoul wäre reicher als er tue, hat er seine Schwester auf ihn gehetzt, und die hat nicht eher geruht, als bis sie den Alten glücklich gekapert hat. Dann hat sie ihn mit sich fortgenommen. Wohin, das wissen wir nicht recht. Inzwischen hat meine Tochter geheiratet...«
»Wissen Sie, wo der Tapezierer wohnt?« unterbrach Josepha die geschwätzige Alte.
»Der alte Chardin? Ja! Wenn man bei so einem überhaupt von wohnen reden kann. Er ist schon am frühen Morgen betrunken, arbeitet so gut wie nichts und treibt sich den lieben langen Tag in gemeinen Spelunken herum und spielt...«
»Er spielt?«
»Ja, Billard. Wenn ich mir Mühe gebe, finde ich ihn schon ...«
»Das müssen Sie!« sagte die Sängerin. »Ich hatte Ihre Tochter gebeten, sich um Vater Thoul zu kümmern, ihn glücklich zu machen, und sie hat ihn verderben lassen. Das war nicht recht! Wenn Sie mir aber binnen vierzehn Tagen berichten können, wo er jetzt wohnt, bekommen Sie tausend Francs!«
»Sapperlot! Aber das ist nicht so leicht, gnädiges Fräulein. Ich will sehen, was sich tun läßt.«
»Gut! Leben Sie wohl, Frau Bijou!«
Als die Sängerin in den Nebensalon trat, fand sie die Baronin in Ohnmacht. Unter Anwendung von Riechsalz kam sie nach einer Weile wieder zu sich.
»Liebes Fräulein«, stöhnte sie, als sie Josepha erkannte und sich mit ihr allein sah, »wie tief ist er gesunken!«
»Seien Sie stark, gnädige Frau!« gab Josepha zur Antwort.
Die Sängerin setzte sich der Baronin zu Füßen und küßte ihr die Hände.
»Mut! wir werden ihn finden. Und steckt er im Schmutz, so wird er sich waschen. Glauben Sie mir, gnädige Frau, für einen höheren Menschen ist dergleichen nichts als eine Art Toilettenfrage. Lassen Sie mich bei der Gelegenheit mein an Ihnen begangenes Unrecht wiedergutmachen! Ich sehe, wie sehr Sie an Ihrem Manne hängen, trotz seines Betragens. Sonst wären Sie nicht zu mir gekommen... Ihr armer Mann ist ein Frauennarr! Sie hätten ein Ausbund unseres Geschlechts sein müssen, wenn Sie ihn vor seinem liederlichen Leben hätten bewahren können. Sie hätten die Reize aller Frauen der Welt vereint besitzen müssen! Aber jetzt handelt es sich nicht um Betrachtungen, sondern darum, Ihnen tatkräftig zu helfen. Seien Sie beruhigt, gnädige Frau! Gehen Sie getrost nach Hause und quälen Sie sich nicht selber! Ich werde Ihnen Ihren Hektor wiederbringen! Ihren ehemaligen Hektor!«
»Ach, Fräulein, lassen Sie uns diese Frau Grenouville aufsuchen! Ich muß mehr erfahren. Vielleicht finde ich meinen Mann heute noch und entreiße ihn dem Elend und der Schande.«
»Gnädige Frau, ich bin Ihnen tief dankbar, daß Sie mir die Ehre erwiesen haben, mich, die ehemalige Geliebte Ihres Mannes, zu besuchen. Aber ich achte Sie zu hoch, als daß ich mich an Ihrer Seite sehen ließe. Es ist das keine Geringschätzung meines Bühnenberufes, sondern eine Huldigung, die ich Ihnen bringe. Ich bedaure, daß ich nicht Ihre Pfade wandle, ungeachtet der Dornen, die Ihnen Haupt und Hände blutig reißen. Ich kann mein Leben nicht mehr ändern. Sie gehören der Tugend, ich meiner Kunst!«
»Mein liebes Fräulein«, sagte die Baronin, bei all ihrem Schmerze über die Worte tiefbewegt, »Gott ist gerecht! Ich werde für Sie beten.« Sie küßte die Sängerin auf die Stirn.
»Sie werden ihn wiedersehen, gnädige Frau! Verlassen Sie sich auf mich!«
Zur selben Stunde empfing Viktor von Hulot in seinem Arbeitszimmer eine alte, etwa fünfundsiebzig jährige Frau. Sie hatte sich als Frau von Saint-Esteve anmelden lassen.
»Ich habe mich unter einem Pseudonym eingeführt«, erklärte sie, als sie dem Anwalt gegenüber Platz genommen hatte. »Mein eigentlicher Name ist Nourrisson.«
Viktor sah sie an. Eine Art Schauder ergriff ihn. Die Alte kam ihm unheimlich vor. Sie war elegant gekleidet, aber ihr Gesicht hatte etwas Gewöhnliches, Verbrecherisches, Böses, Lauerndes und Gieriges. Ihre Nase zumal kam ihm raubvogelartig vor.
»Verehrter Herr«, sagte sie in gönnerhaftem Tone, »ich mische mich seit langem nicht mehr in anderer Leute Angelegenheiten, und wenn ich etwas für Sie tue, so geschieht das nur meines lieben Neffen wegen, der mir mehr ans Herz gewachsen ist, als wenn er mein eigenes Kind wäre. Für ihn arbeite ich. Er ist Beamter der Sittenpolizei. Sie haben nun in diesen Tagen in einer Familienangelegenheit um die
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