Tanz auf Glas
mehr viel Zeit, Ron. Und ich wollte zuerst mit dir sprechen, weil ich deine Hilfe brauchen werde, wenn ich mit Lily rede.« Ich schniefte. »In Gedanken habe ich dieses Gespräch schon hundertmal mit ihr zu führen versucht, aber ich komme nie über die Stelle hinweg, an der ich ihr sagen muss, dass ich wahrhaftig sterbe.« Ich rieb mir mit den Händen das Gesicht. »Ich mache mir keine Illusionen, aber ich glaube, Lily schon. Sie ist noch nicht bereit, zu hören, dass meine Zeit fast abgelaufen ist und diese Entscheidung getroffen werden muss.«
Ron drückte meine Schulter. »Schon gut. Wir finden einen Weg.«
»Wir müssen ihn jetzt finden, und du bist der Einzige, der immer vernünftig und ehrlich ist – auf den ich mich verlassen kann. Also wimmele mich bitte nicht ab.« Ich putzte mir die Nase und zügelte meine ausgefransten Emotionen.
»Okay, fangen wir mit ›vernünftig‹ an. Warum sollte Mickey sein Kind hergeben? Und sei es an uns?«
»Wo soll ich anfangen?« Ich sah meinen Schwager lange an, und die Erklärung für Mickeys jüngste Eskapade lag mir auf der Zunge, doch schließlich schüttelte ich nur den Kopf. »Er hält sich für zu krank, um ihr ein guter Vater zu sein.« Ich wollte ihm das genauer erklären, fing aber stattdessen an zu husten, und bald hustete ich so furchtbar, dass ich darum betete, die tröstliche Wolke von gerade eben möge zurückkommen und mich retten. Ich rang mit meiner Panik, holte hastig die Wasserflasche aus meiner Tasche und ließ ein wenig Flüssigkeit durch meine brennende Kehle rinnen. Ron sagte nichts. Nur seine Hand lag sanft auf meinem Rücken – ruhig, beständig und tröstlich.
Ich lehnte mich an ihn und befahl mir, mich zu beruhigen, während er meine Schulter streichelte. Er warf nicht mit Floskeln um sich, was ich sehr zu schätzen wusste, und gleich darauf bekam ich wieder Luft.
»Also?«
»Ich glaube nicht, dass ich das kann, Lucy. Mir wurde auch einmal ein Baby fortgenommen, weißt du noch? Das war die Hölle.«
»Natürlich weiß ich das noch. Aber das kannst du nicht vergleichen. Mickey will es so. Er liebt seine Tochter, und er kennt keinen besseren Weg, ihr das zu beweisen.«
»Das kann ich einfach nicht glauben, Lucy.«
»Doch. Du kennst Mickey.«
»Ja, aber …«
»Ich wünschte auch, alles wäre anders, Ron, aber wir können nun mal nicht zaubern. Mickey ist Mickey, und es spielt keine Rolle, dass ich völliges Vertrauen in seine Fähigkeit habe, die Kleine zu lieben – er traut es sich selbst nicht zu.« Ich schüttelte den Kopf und kämpfte wieder mit den Tränen. »Er gibt sich solche Mühe, Ron, das weißt du ja. Aber seine Vorstellung von Erfolg ist, seine Krankheit vollkommen im Griff zu haben, und das kann er eben nicht immer leisten. Er kann sie lange zügeln. Aber selbst wenn er alles richtig macht, wachsen ihm irgendwann Flügel. Der geistig gesündeste Teil von Mickey hat sich eingeredet, dass ein unschuldiger kleiner Mensch nicht von ihm abhängig sein dürfe.«
Ron schwieg, doch ich sah das Mitleid in seinen Augen.
»Schau nicht so. Bitte, nicht du. Er tut wirklich sein Bestes.«
»Das weiß ich«, sagte Ron.
Eine Pause entstand. Dann flüsterte ich: »Ich liebe ihn so sehr. Ich glaube, schon seit dem ersten Augenblick. Das klingt vielleicht seltsam, weil es im Laufe der Jahre so viel
Wahnsinn
gab, aber das sind nicht meine wichtigen Erinnerungen. Die Leute halten mich für etwas Besonderes, weil ich es so lange mit ihm ausgehalten habe. Aber das einzig Besondere an mir ist, dass Mickey mich liebt.« Ich schüttelte den Kopf und schaute auf den Fluss hinaus. »Tatsache ist, dass Mickey nicht so ist wie du und ich, Ron. Und ich weiß nicht, was mit ihm geschehen wird, wenn ich nicht mehr da bin.«
»Lucy …«
Ich wischte mir grob die Tränen vom Gesicht. »Dieses Opfer, das er da bringen will – die Distanz zu seiner Tochter –, das ist Mic in seinen besten und rationalsten Augenblicken. Kannst du das verstehen?«
Mein Schwager brauchte eine Weile, bis er antwortete. »Ich verstehe es. Aber kein Mann sollte seine Frau
und
sein Kind verlieren müssen. Was würde das bei ihm anrichten?« Ron hielt den Blick auf den Grabstein meiner Eltern geheftet, und ich sah, dass sein Kinn zitterte. »Was du vorschlägst, ist einfach nicht richtig, Lucy.«
»Ich weiß. Aber so wird er sie wenigstens kennenlernen. Sie wird ihn kennenlernen. Und sie wird von euch allen geliebt und behütet.«
Ron wandte sich wieder mir
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