Tanz auf Glas
sie mich untersuchte und immer wieder den Kopf schüttelte. Doch dem Baby ging es gut, und daran hielt ich mich fest.
Ich lehnte die Stirn ans Lenkrad und sammelte meine Kräfte, um auszusteigen. Zumindest war ich allein und brauchte niemandem vorzuspielen, dass es mir gutging. Mickey glaubte mir immer, wenn ich behauptete, mich gut zu fühlen – obwohl das nicht stimmte –, weil er es glauben musste. Bei Lily war es dasselbe. Doch die Fassade, die ich aufgebaut hatte, hatte ihren Preis. Ich war erschöpft, und ich wusste, dass ich sie nicht mehr lange würde aufrechterhalten können. Ich wollte auch gar nicht mehr.
Da ich seit einer ganzen Weile nicht mehr hier gewesen war, hatte ich einen Eimer und eine Heckenschere mitgenommen, sogar ein paar Lappen und Glasreiniger. Als ich aus dem Auto stieg, spürte ich die Wärme der Novembersonne. Trotz der kühlen Brise fühlte sie sich herrlich an. Ich nahm den Eimer und die anderen Sachen aus dem Kofferraum und marschierte damit den Kiesweg entlang, meinen Sauerstofftank hinter mir herziehend. Zum tausendsten Mal wurde ich daran erinnert, für wie selbstverständlich ich so etwas Einfaches wie Atmen immer gehalten hatte. Nie war ich auch nur einen Augenblick lang dankbar gewesen für die wunderbare Freiheit, nach Belieben Luft holen und sie wieder ausstoßen zu können. Umso dankbarer war ich jetzt. Ständig verfolgte ich aufmerksam den Vorgang, mit dem meine Lunge Sauerstoff aufnahm. Oh, wie ich mich danach sehnte, einmal zu seufzen, tief, unbekümmert und erfrischend! Aber ich wusste, dass ich teuer dafür bezahlen würde, wenn ich diesem Wunsch nachgab.
Der Aufschub war offiziell abgelaufen, und jede Kleinigkeit konnte mein ramponiertes Atmungssystem überfordern. Wenn das geschah, blieb mein Atem irgendwo zwischen ein- und ausatmen stecken und wollte sich nicht mehr rühren. Dann musste ich husten, was mir das Atmen noch mehr erschwerte. Gestern Nacht war es so schlimm gewesen, dass ich nur noch sterben wollte und mich dabei nicht einmal schlecht fühlte. Dieser Anfall war bei weitem der schwerste bisher, und danach war ich vollkommen kraftlos und hatte unbeschreibliche Angst um mein Baby. Ich stellte fest, dass sich mein Leben nur noch darum drehte, diese Anfälle zu vermeiden. Jeder Gedanke, jede Bewegung zielte darauf ab, ruhig und gleichmäßig weiterzuatmen. Daher war ich sehr, sehr vorsichtig auf dem Weg hinauf zum Grab meiner Eltern. Ich ging langsam, atmete in kontrollierten, kleinen Rationen und versuchte, nicht allzu sehr darüber nachzudenken.
Als ich die Marmorbank unter der Ulme erreichte, raste mein Herz, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Ich musste mich hinsetzen und langsam durch die zusammengebissenen Zähne atmen, um mich zu beruhigen, aber bald hatte ich wieder alles unter Kontrolle. Ich sah mich um. Ich war allein bis auf die Toten um mich herum, und ich fand ihre Gesellschaft so tröstlich wie immer. Schon als kleines Kind hatte ich diesen Ort nicht als unheimlich oder traurig empfunden.
Einmal, nicht lange nach dem Tod meines Vaters, war ich nach der Schule hierhergekommen, um ihm vorzulesen – um das Alphabet zu üben. Unser Morgenritual fehlte in meinem jungen Leben beinahe so sehr wie er. Also beschloss ich eines Tages, zwei Haltestellen später aus dem Schulbus auszusteigen und zum Friedhof zu gehen. Ich breitete meinen Pulli auf dem Gras vor seinem Grabstein aus, setzte mich im Schneidersitz darauf und begann zu lesen. Ich muss ganz darin vertieft gewesen sein, denn ich bemerkte weder den Streifenwagen, der unten am Straßenrand gehalten hatte, noch meine Mutter und Deloy Rosenberg, die beide den Weg entlangkamen. Ich erinnere mich noch, wie verblüfft ich über ihre Reaktion war, als sie mich hier fanden. Dass ich dasaß und meinem Vater etwas vorlas, schien mir derart vieler Tränen und geballter Aufmerksamkeit nicht würdig. Seit dem Tod meiner Mutter war ich noch viel öfter hier gewesen.
Priscilla fand es natürlich morbide, dass ich so viel Zeit auf dem Friedhof verbrachte. Sie hatte Charlotte gebeten, mit mir darüber zu sprechen, und Charlotte hatte mich eines Tages hier oben aufgesucht, um mir von der Besorgnis meiner Schwester zu erzählen. Das war im Frühherbst gewesen, an einem Tag ganz ähnlich wie heute, mit kühler Luft, aber warmer Sonne.
An jenem Nachmittag erfuhr ich, dass Charlotte die Nähe meiner Eltern genauso empfand wie ich. Sie rezitierte damals auswendig John Donnes berühmtes Sonett »Tod, sei
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