Tanz auf Glas
sich neben mich auf die Armlehne, Lily hockte sich vor den Sessel, und wir alle lächelten. Ich schätzte mich unendlich glücklich, so wunderbare Freundinnen und Schwestern zu haben. Lily küsste mich auf die Wange. »Kann ich dir etwas bringen?«
»Ich bin bestens versorgt, Lil. Hast du das organisiert?«
»Wir alle zusammen.«
»Es ist fantastisch.« Ich blickte mich um und sog alles in mich auf, die lieben Stimmen, die Fürsorge, die feuchten Augen und bekümmerten Blicke, die zarten Umarmungen. Und erst die Geschenke! Noch nie hatte ich so wunderschöne Sachen gesehen. Ich musste weinen, so sehr freute ich mich für meine Tochter. Sie bekam alles, was ein kleines Mädchen gebrauchen konnte, und mehr. Muriel hatte einen winzigen rosafarbenen Pullover gestrickt, mit Saatperlen verziert, und ich umarmte sie so stürmisch, dass ich sie beinahe umriss. Jan schenkte uns einen Stapel Bilderbücher, und als ich sie umarmte, hätte ich am liebsten nie wieder losgelassen.
Schließlich war nur noch ein Geschenk zum Auspacken übrig, und Lily sagte: »Das ist von Priss und mir.«
Ich riss das Geschenkpapier auf, öffnete die Schachtel und faltete mehrere Schichten Seidenpapier auseinander. Dann musste ich schon wieder weinen, denn ich hielt das schönste Taufkleidchen in den Händen, das ich je gesehen hatte. Es war über einen Meter lang, fein und zart und einfach exquisit. Sogar ein passendes Stirnband mit einem großen seidenen Gänseblümchen gehörte dazu. Ich hielt mir das Kleid an die Brust und stellte mir vor, wie es sich anfühlen würde, meine kleine Tochter darin im Arm zu halten. Meine Schwestern weinten, ich weinte, Muriel putzte sich die Nase, Jan und Charlotte schnieften dezent. Ich blickte zu dieser Versammlung liebevoller Frauen auf, deren Großzügigkeit sich zu meinen Füßen häufte. Ahnten sie überhaupt, wie viel sie mir bedeuteten?
»Ich liebe euch«, sagte ich weinend. »Danke euch allen, vielen, vielen Dank!« Das hätte nicht wie ein Abschied klingen sollen, hörte sich aber dennoch so an.
Priss kam zu mir, küsste mich auf den Kopf und brachte dankenswerterweise die traurige Stimmung, die ich gerade verbreitet hatte, wieder zum Kippen.
»Wir wären alle froh, wenn wir deine rührende Dankbarkeit verdient hätten, Lu. Aber in Wahrheit wollten wir nur endlich mal wieder eine Party feiern, und da kamst du uns als Vorwand gerade recht.«
Endlich hörte ich Lachen, leises Lachen, aber immerhin, und ich lachte selbst vor Erleichterung. Priscilla war meine Rettung, und sie bewahrte uns alle davor, der Realität allzu genau ins Auge blicken zu müssen.
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14 . November 2011
G leason sagt, bevor ein Berg einstürzt, kullern immer ein paar warnende Steinchen herab. Wenn das stimmt, habe ich meine erste Warnung schon vor Jahren erhalten, als Lucy mir von dem Krebs erzählte, der in ihren Genen steckt. Nur fünf Jahre nach unserer Hochzeit wurde der grauenhafte Vorläufer dessen diagnostiziert, was jetzt mit ihr geschieht. So lautet zumindest die Theorie. Sicher weiß ich nur eines: Jeder sorgenvolle Gedanke und jede Angst ist ein weiteres Steinchen, und inzwischen stehe ich ganz im Schatten des Berges, der mich bald unter sich begraben wird. Dr. Gladstones Optimismus ist so dünn, dass man ihn als Lüge bezeichnen muss. Dass es passieren wird, sagt er eindeutig – er weiß nur nicht, wann. Also versuche ich, unter dieser Pein das Gleichgewicht zu halten und mich auf den Augenblick zu konzentrieren. Mein Arzt hat mir verordnet, nicht über das Unmittelbare hinauszuschauen, sondern im kleinen Reich des Hier und Jetzt zu bleiben. Meine Aufgabe besteht darin, meine Frau so sehr zu lieben, dass sie es in alle Ewigkeit fühlen wird. Vor allem aber muss ich stark bleiben. Ich werde reichlich Zeit für einen Zusammenbruch haben … hinterher. Jetzt jedoch horte ich jedes müde Lächeln, jede schwächer werdende Berührung, jeden ernsten Kuss, und brenne sie mir ins Herz ein.
Ich stellte den Motor ab und blickte den Weg entlang, der zum Grab meiner Eltern führte. Vom Straßenrand aus kam mir der Weg entmutigend weit vor, und ich überlegte, ob ich lieber gar nicht dort hinaufgehen sollte. Ich fühlte mich nicht gut. Der Unterschied zwischen heute und gestern und dem Tag davor war himmelweit. Ich hatte die ganze Nacht lang gehustet und war am Morgen als anderer Mensch aufgewacht, unleugbar krank. Am Vormittag war ich lange bei Charlotte, wo Mickey im Wartezimmer auf und ab ging, während
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