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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
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sein.«
    »Das ist auch gut so. Aber Mom hat das gewusst. Sie hat sich Sorgen um dich gemacht, weil sie wusste, wie zart du bist. Die Zarteste von uns allen, hat sie gesagt.«
    »Hat sie nicht.«
    »Doch. Sie hat gesagt, du seiest die Empfindsamste und Lily die Liebste und Sanfteste.«
    »Und du?«
    »Das weiß ich nicht mehr genau. Ich glaube, sie hielt mich für besonders stark.«
    Priss fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und sagte nichts.
    »Sie kannte dich, Priss. Vielleicht besser, als du dich je selbst gekannt hast. Sie hat immer gesagt, ein sehr geduldiger Mensch würde sehr lange brauchen, um sich bis zu deinem Herzen durchzugraben.«
    »Das hat sie nicht gesagt«, wehrte Priss erneut leise und unsicher ab.
    »Genau das. Und wenn dieser Mensch es dann gefunden hat, wird er der glücklichste Mann auf Erden sein, hat sie gesagt.«
    Meine Schwester begann zu weinen. »Ich kann nicht glauben, dass Mom so etwas über mich gesagt haben soll.«
    »Das ist aber so. Sie wusste alle wichtigen Dinge, die Mütter wissen müssen. Sie wusste sogar, dass du und ich eines Tages diese Unterhaltung führen würden.«
    »Na klar.«
    »Nein, wirklich! Sie war sehr krank – ein paar Tage vor ihrem Tod – und hat mir von all den Dingen erzählt, die sie nun verpassen würde. Und sie hat gesagt: ›Lucy, eines Tages wird Priss über mich sprechen wollen. Dann musst du ihr sagen, dass ich sie immer geliebt habe und ganz sicher bin, dass sie mich auch immer liebhatte.‹« Ich versuchte, noch einen strengen Blick obendrauf zu legen, brachte aber keinen zustande. »So, jetzt weißt du Bescheid.«
    Priscilla setzte sich auf den Boden und zog die Knie bis unters Kinn. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, verletzlich und voller Hoffnung. »Das hat sie wirklich gesagt?«
    »Wortwörtlich.«
    Priscilla starrte zu Boden, und wir schwiegen für eine Weile. Ich dachte an diese letzten schrecklichen Tage, als meine Mutter solche Schmerzen gelitten, sich aber noch ans Leben geklammert hatte. Sie war noch nicht fertig gewesen. Jetzt wusste ich genau, wie sie sich gefühlt hatte. Die Todesfee war bereit gewesen, sie mit sich zu nehmen. Ihre gespenstische Präsenz im Raum war unleugbar. Aber meiner Mutter fiel immer noch etwas ein, was sie mir sagen musste. Allen möglichen Unsinn gab sie in ihrem totenbleichen Delirium von sich, als erteile sie letzte Anweisungen. Nichts davon war rational – bis auf die letzten Worte.
    Ich war in Dads Sessel eingeschlafen, ihre Hand in meiner. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber der Zug weckte mich, und da sah Mom mich direkt an, mit ihren normalen Augen – nicht mit denen, die von Schmerz und Medikamenten verschleiert waren. Sie kam mir plötzlich so anders vor, dass ich einen Moment lang glaubte, das sei ein Traum. Sie sah aus wie früher, ehe sie krank wurde. Eine Art Frieden hatte die tiefen Furchen in ihrem Gesicht geglättet, und irgendwoher wusste ich, dass die Zeit gekommen war. Und sie wusste es auch.
    Sie zupfte an mir und zog mich ganz dicht an sich heran.
    »Du bist so ein gutes Mädchen, Lucy«, flüsterte sie. »Hab keine Angst, mein Liebling, denn da ist
nichts,
was man fürchten müsste.«
    Ich verstand nicht, was sie meinte, doch ehe ich sie fragen konnte, bat sie mich, ihr etwas Eis zu holen. Ich weiß noch, dass ich das Zimmer ungern verließ, weil die Todesfee hier war.
Ihre
vertrauten Augen sagten mir, dass meine Mutter fort sein würde, wenn ich zurückkam. Und mir war klar, dass Mom es so wollte. Also küsste ich sie auf die Wange, ging nach unten und holte Eis.
    Ich begann zu husten, und Priscilla war sofort bei mir. »Wir schaffen dich jetzt besser aus der Wanne. Das Wasser muss inzwischen eiskalt sein.« Priss holte ein Handtuch und half mir aufzustehen. Sie schnappte wieder nach Luft, als sie meine dünnen Arme und Beine sah und den völlig überproportionierten Bauch, bedeckt mit blauen Adern.
    Ich zog das Handtuch um mich. »Jetzt wirst du wohl Alpträume bekommen.«
    »Wahrscheinlich«, sagte sie, nur halb im Scherz. Sie half mir in einen frischen Schlafanzug, und ich setzte mich in den großen Sessel, Dads Sessel. Während ich in das Handtuch hustete, trocknete meine Schwester mir die Haare. Ich glaube, in meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so viel Zärtlichkeit von Priscilla erfahren. Als sie fertig war, setzte sie sich auf die Bettkante und nahm meine Hand. »Lucy, ich hätte Mom so vieles sagen sollen. Diesen Fehler will ich bei dir nicht

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