Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
Vom Netzwerk:
Ron verpasste es ebenfalls, weil er sich um mich kümmerte. Gleason verpasste es, und Harry auch. Es war sowieso ein grässlicher Tag für eine Beerdigung. Ein bitterer Wind wehte vom Fluss herüber, Schnee wirbelte wild herum und machte einen blind. Es war, als wehrte sich der Tag gegen dieses schreckliche Ereignis.
    Sie brachten mich in die Klinik. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Ich war wahnsinnig vor Trauer, brüllte herum, wurde aggressiv. Ich hätte jemanden verletzen können, so wild schlug ich nach diesen wichtigsten Männern in meinem Leben. Gott sei Dank ist nichts passiert, aber Gleason musste mir den Arm auf den Rücken drehen, um es zu verhindern. Er ist stark für einen alten Herrn.
    Als ich mich wieder stabilisierte, lag ich in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung und hatte mehrere Spritzen Haloperidol intus. Ich war benommen, aber nicht sediert genug, um zu verhindern, dass alles wieder auf mich einstürmte. Lucy war tot. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich kraftlos in dieser Höhle von einem Raum gelegen hatte. Ich wusste nur, dass Lucy tot war, und das Gewicht dieser Tatsache lähmte mich vollständig. Gleason besuchte mich, aber wir redeten nicht. Unter dem Einfluss der Medikamente war ich friedlich und fügsam, und nachdem er wieder gegangen war, führten mich zwei stämmige Pfleger den Flur entlang in ein normales Krankenzimmer. Hier schlafe ich – zumindest liege ich in diesem Bett und starre die Wand an. Ron war schon ein paarmal da, aber ich kann ehrlich nicht sagen, ob er mich an mehreren Tagen besucht hat oder mehrmals an einem Tag. Die Zeit hat hier keine Bedeutung, und die Dunkelheit des schweren Winterhimmels vor meinem Fenster scheint sich nie zu verändern.
    Ich habe das Pflegepersonal nur um eines gebeten, nämlich niemandem zu erlauben, mich zu besuchen. Peony erklärte sich einverstanden, bestand aber darauf, meine Familie von dem Verbot auszunehmen. Also kommt Ron vorbei, und Lily, und seltsamerweise auch Priscilla. Lily weint jedes Mal, wenn sie hier ist. Manchmal stelle ich mich schlafend, nur damit sie mich in Ruhe lässt. Sie sagt, sie wolle dem Baby einen Namen geben, das aber nicht ohne mich entscheiden. Ich schäme mich, das einzugestehen, aber es ist mir völlig egal.
    Heute Abend war Lily wieder da, und ich hielt die Augen geschlossen, während sie mich wieder einmal anflehte, mitzukommen und das Baby zu besuchen. Aber sie ließ sich nicht täuschen. Trotz der Tränen, die ich in ihrer Stimme hörte, redete sie weiter auf mich ein, über Namen, über die nette Ärztin, die sich um die Kleine kümmerte, die immer noch nicht selbständig atmete. Doch Lilys Bemühungen, mich von meiner Trauer abzulenken, schlugen fehl, hauptsächlich deshalb, weil sie selbst vor Trauer überfloss. Ich hörte sie in ihrer Stimme, und wenn ich die Augen öffnete, würde ich sie in ihrem Gesicht sehen. Sie sollte endlich weggehen. Auf einmal spürte ich ihre Hand an meiner Schulter.
    »Ich weiß, dass du mich hören kannst, Mickey. Ich lasse dir etwas da, damit du es dir ansehen kannst. Jan hat es für Lucy gemacht.« Da brach ihre Stimme, und ein Schluchzen drohte in meiner Kehle, aber ich rührte mich nicht. »Lucy hat dieses Märchen gefunden, das mein Vater über uns geschrieben hat, als wir noch klein waren. Jan hat es wunderschön illustriert, und ich dachte, du möchtest es vielleicht gern sehen. Ich weiß nicht, wie Jan das gemacht hat, aber genauso haben wir als Kinder ausgesehen. Also …« Sie küsste mich auf die Wange und beobachtete mich noch einen Moment lang. Dann ging sie hinaus.
    Es muss recht spät gewesen sein, denn es war still. Ich hörte, wie sich Lily auf dem Flur von der Schwester verabschiedete. Dann fiel die Automatiktür zu. Ich lag da, ließ mich von der geräuschlosen Nacht verschlucken und schlief, bis meine Blase mich weckte. Ich richtete mich auf, knipste die Nachttischlampe an und ging vorsichtig ins Bad. Aus dem Spiegel schaute mir das blanke Grauen entgegen. Ich sah entsetzlich aus. Es war beinahe, als sei mein Gesicht mit Lucy durchsetzt gewesen, und nun war sie fort und hatte meine Züge grob, schlaff und völlig ruiniert zurückgelassen. Ich erkannte mich kaum wieder. In meinem Zimmer setzte ich mich und ließ den Kopf hängen. Ich wusste nicht, wie ich das überleben sollte.
    Das Etwas, das Lily mir gebracht hatte, war ein Buch, und es lag auf dem Nachttisch. Es sah aus wie ein Bilderbuch, farbenfroh und übergroß. Mit einer zitternden

Weitere Kostenlose Bücher