Tanz auf Glas
setzt.
Ich wollte tot sein, aber ich besaß nicht einmal mehr die Kraft, das zu erreichen. Also schloss ich die Augen und schob alles von mir fort.
Ich erwachte vom beharrlichen Stupsen knochiger Finger zum überwältigenden Duft von Chanel No. 5 – Priscilla. Die sanfte Schwester hatte es nicht geschafft, mich in Bewegung zu setzen, also war es wohl an der Zeit, schweres Geschütz aufzufahren. Ich wälzte mich zur Wand herum, doch sie stupste immer noch.
»Ich gehe nicht, bevor du aufgestanden bist, Mickey.« Ihre Stimme klang tonlos, leblos, herzerweichend traurig. Ich verschloss mich gegen sie, so lange ich konnte, doch auch Priscilla war stur. Schließlich richtete ich mich auf und lehnte mich an die Wand. Mein verhärmtes, unrasiertes Gesicht muss einen sehr finsteren Ausdruck gehabt haben, denn Lucys Schwester schlug mich – sie verpasste mir eine kräftige Ohrfeige.
»Wag es nicht, mich so anzuschauen.«
Ich hätte zurückgeschlagen, sie niedergeschlagen, wenn ich es geschafft hätte, den Arm zu heben. »Priscilla, geh weg.«
»Ich gehe nicht. Und ich habe heute nichts anderes vor, also kann ich dir den ganzen Tag lang einheizen.«
Ich erwartete, dass Wut in mir aufflackern würde, doch selbst dazu war ich zu matt. »Was willst du?«
»Ich will, dass du dir Schuhe anziehst und mit mir hoch zur Kinderstation gehst.«
»Nein.«
»Doch.«
»Scher dich zum Teufel, Priscilla.«
»Vielleicht später. Jetzt gehen wir da hinauf und besuchen deine Tochter.«
Priscilla setzte sich aufs Bett und beugte sich so dicht zu mir vor, dass sich unsere Lippen beinahe berührten. »Jetzt hör mir mal zu! Du kommst nicht damit durch, den Verrückten-Joker zu zücken, Mickey. Nicht jetzt. Wir anderen genießen diesen Luxus auch nicht!« Mit zusammengebissenen Zähnen fuhr sie fort: »Ich nehme keine Rücksicht auf deine geistige Gesundheit, nicht einmal auf deine Trauer. Wir alle haben Lucy verloren. Wir alle müssen damit klarkommen. Sogar du! Und jetzt hoch mit dir!«
Sie zog an meinem Arm, und ich überraschte mich selbst damit, dass ich mich nicht wehrte. Stattdessen richtete ich mich ganz auf, obwohl mir schwindelig wurde angesichts der Ruine, zu der mein Leben geworden war. Ich schlug die Hände vors Gesicht. Das sengende, pulsierende Gefühl der Trauer lastete schwer auf meiner Brust und nahm mir die Luft. Um ehrlich zu sein, beneidete ich Priscilla um ihre Leidenschaft, ihre Energie und die Fähigkeit, alles andere in Wut zu kanalisieren.
»Steh auf«, befahl sie.
Ich blickte zu ihr hoch, und wir starrten einander an – ich in jämmerlicher Hilflosigkeit, sie funkelnd vor Empörung.
»Ich kann mich nicht bewegen, Priscilla.«
»Stell dir vor, das Gebäude stünde in Flammen. Steh auf.«
»Ein Brand wäre die Antwort auf all meine Gebete.«
»Ach, heul mir nicht die Ohren voll, Mickey.«
Sie versuchte mich aufzustacheln, und ich konnte nichts weiter tun, als dazusitzen und jämmerlich auszusehen.
»Hör sofort auf damit, Mickey. Sei nicht so erbärmlich und mitleidheischend.« Dann fügte sie mit wackeliger Stimme hinzu: »Lass auch mal jemand anderen drankommen.«
Da erkannte ich ihn – den Schmerz, genauso abgrundtief wie meiner, nur dass ihrer offen heraushing, während meiner in mir gefangen war. Priscilla merkte, dass ich sie durchschaut hatte, und ließ ihre biestige Maske mit einem schweren Seufzen fallen. Sie sank neben mir aufs Bett und starrte die Wand an. Ich griff nach ihrer Hand.
»Ich bin so gemein, und ich habe es so verdammt satt, gemein zu sein«, wimmerte sie.
»Du bist wirklich gemein.«
Priscilla begann zu weinen. Sie versuchte nicht, ihre stillen Tränen zu verbergen, sondern starrte weiterhin an die Wand. Ich beobachtete sie noch ein wenig und starrte dann ebenfalls die Wand an.
Priscilla blieb lange, und ich würde ihr das zwar nie sagen, aber ich war froh darüber. Es tat gut, in meinem Kummer mit jemandem zusammen zu sein, der Lucy so geliebt hatte wie ich. Auf einmal gierte ich so sehr nach Gesellschaft, dass mir sogar Priscilla willkommen war.
Nachdem sie gegangen war, blieb ich noch lange auf der Bettkante sitzen, bis die Krankenhausgeräusche verstummten und das Licht gedimmt wurde. Ich saß da, während es draußen vor meiner Zimmertür immer stiller wurde, nachdem alle Patienten ihre Medikamente bekommen hatten und ins Bett gegangen waren. Peony steckte den Kopf durch den Türspalt, um nach mir zu sehen. Ihre weiße Uniform leuchtete beinahe neongrell
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