Tanz auf Glas
Dr. Gladstone hatte immer eine leichte Missbilligung ausgestrahlt, und heute machte er keine Ausnahme. Ich hörte, wie Mickey zu weinen begann – ein mächtiges, japsendes Schluchzen. Priscilla wurde wütend und verkündete: »Das ist doch Blödsinn!«, und ich vernahm Lily mit bebender Stimme fragen: »Das war es also? Wir können wirklich nichts mehr für sie tun? Sie bekommt keine Luft!«
»Lucy wollte keine heldenhaften Rettungsversuche«, erklärte der Arzt. »Sie wollte nicht, dass irgendetwas getan wird, wodurch das Unvermeidliche nur in die Länge gezogen würde. Das steht alles klar und deutlich hier drauf.«
»Wie lange, Dr. Gladstone? Wie viel Zeit bleibt ihr noch?«, fragte Ron, und auch seine leise Stimme zitterte.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, leider. Lucy hat mich schon so oft überrascht, vielleicht wird sie mich auch diesmal überraschen. Aber nicht mehr lange, würde ich sagen.«
Ich blickte in die Augen, in die ich als Kind zum ersten Mal geschaut hatte. Die Erscheinung war wunderschön und vertraut. Ich wandte mich ihr zu, denn ich wusste, dass sie allein mir die Angst nehmen konnte.
»Nicht lange?«
»Bald«, sagte sie.
Ein Weilchen später nickte die Erscheinung und streckte die Hand nach mir aus. Ich spürte, wie etwas in mir losließ, doch ich zog es zurück.
»Ich kann nicht gehen, ohne mich zu verabschieden«, sagte ich auf diese seltsame Weise.
Sie nickte, und plötzlich trieb ich an die Oberfläche – anders kann ich es nicht beschreiben. Ich tauchte zu vollem Bewusstsein auf und wurde mir augenblicklich meiner Schmerzen bewusst. Es fühlte sich grauenhaft an, zu ersticken. Ich öffnete die Augen und sah einen halbdunklen Raum, nur erhellt von der Lampe neben meinem Bett. Mickey saß da, den Kopf über unsere verschlungenen Hände gesenkt. »Mic?«, stöhnte ich.
Er hob den Kopf, sah mich an und sprang auf. Seine Augen waren vom Weinen geschwollen.
»He«, flüsterte er. Er küsste mich und schmiegte eine rauhe Hand an mein Gesicht. In seinen Augen stand eine solche Erleichterung, so viel unrealistische Hoffnung. Er küsste mich noch einmal.
»Wir haben eine Tochter, Lu. Ein wunderschönes kleines Mädchen. Du hast es geschafft, Liebling.«
Ich wollte ihn fragen, wie es ihr ging, brachte aber kein Wort heraus. Das machte auch nichts.
»Sie ist eine Kämpfernatur, Lu. Genau wie ihre Mom. Sie atmet noch nicht ganz selbständig, aber beinahe. Eine sehr nette Ärztin kümmert sich gut um sie.« Mickey beugte sich dicht über mich und umfing mein Gesicht mit beiden Händen. »Sie ist wunderschön, Lu. Das hast du fantastisch gemacht.«
»Mic …« Ich war so müde, und jeder Atemzug kostete mich unendliche Anstrengung. »Ich liebe dich«, ächzte ich. »Ich liebe dich so sehr.«
»Ich liebe dich auch, mein Schatz«, sagte er mit erstickter Stimme.
Als ich ihn so ansah, wusste ich, dass ich ihn auf ewig lieben würde. Und plötzlich verstand ich, was meine Mutter gemeint hatte, als sie mir sagte, es gäbe nichts, wovor ich mich fürchten müsste. Ich rang nach Luft. »Mickey … hab keine Angst.«
»He. So etwas wollen wir gar nicht hören«, sagte er und bemühte sich, bestimmt zu klingen.
Ich betrachtete ihn ein paar Augenblicke lang. Sein dichtes, herrliches Haar war mehr als zur Hälfte silbrig geworden und musste dringend geschnitten werden. Ich versuchte, die Hand zu heben und darüberzustreichen, doch meine Kraft reichte nicht. Er hielt meine Hand fest und küsste meine Handfläche.
»Hast du Schmerzen, Lu? Was brauchst du, Liebling?«
Was ich brauchte? Was konnte ich in diesem Moment schon brauchen, außer etwas mehr von dem, was es für mich nicht mehr gab? Ich vermochte ihm nicht zu antworten. Ich blickte nur in seine traurigen Augen und brannte sie in meine Erinnerung ein, damit ich sie niemals vergessen würde. Dann bat ich meinen wunderbaren Mann, mir etwas Eis zu bringen.
»Eis? Natürlich, Schatz. Und ich sage der Schwester Bescheid, dass du wach bist.« Er küsste mich auf die Stirn und die ausgetrockneten Lippen. Mit innigem Flehen in den nassen Augen richtete er sich über mir auf. »Ich bin gleich wieder da.« Dann ging er hinaus, und ich war allein.
Mit einem einzigen, mühseligen Atemzug ließ ich los und griff nach der Hand, die auf mich wartete. Da nahm die wunderschöne, geisterhafte Erscheinung auf einmal deutlich und dreidimensional Gestalt an, und ich weinte, als ich sie erkannte. »
Du
bist es.«
»Ja, mein Liebling. Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher