Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
Vom Netzwerk:
vor ihrer dunklen Haut.
    »Wie geht’s, Michael?«
    Ich antwortete nicht.
    »Ich habe hier Ihre Abendmedikation und eine Schlaftablette.«
    »Kann ich die später nehmen?«
    »Ja, von mir aus. Ich komme in einer Stunde wieder.«
    Ich nickte ihr zu. Peony war nicht immer so entgegenkommend gewesen wie jetzt. Normalerweise erinnerte sie an einen barschen Feldwebel, der einen mit links niederringen konnte. Aber der Tod meiner Frau hatte sie völlig entwaffnet, und jetzt wussten wir beide nicht mehr recht, wie wir miteinander umgehen sollten. Sie verschwand, und die Nacht senkte sich wieder schwer auf mich herab. Mit größter Mühe hievte ich mich auf die Füße. Mein Körper glich einem sperrigen Sack Zement. Ich blieb eine Minute lang stehen, weil mir etwas schwindelig war, vermutlich von den Medikamenten, vielleicht aber auch, weil ich den ganzen Tag lang nichts gegessen hatte. Um mir die Schwestern vom Hals zu halten, spülte ich mein Essen in der Toilette hinunter und versteckte die Äpfel und Orangen, die zu jeder Mahlzeit auf dem Tablett lagen, in einer der unteren Schubladen. Ich hatte in Wahrheit seit Tagen nichts mehr gegessen.
    Im Bad stützte ich mich am Waschbecken ab und atmete ein paarmal tief durch. Dann putzte ich mir die Zähne und kämmte mich. Im Spiegel sah ich aus, als wäre ich geschlagen worden, und meine Augen waren tief in die Augenhöhlen gesunken. Ich musste mich unbedingt rasieren, doch man erlaubte mir keinen Rasierer, und der letzte Rest meiner Würde ließ nicht zu, dass ich mich bei der Körperpflege überwachen ließ. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht und fühlte mich ein wenig besser. Dann ging ich hinaus.
    Vor dem Schwesternzimmer überraschte ich die Schwestern beim Schichtwechsel, und Peony musterte mich besorgt, da jetzt ihr Übergabebericht an die Nachtschwester in der Luft hing. »Alles in Ordnung, Michael?«
    »Ich würde gern ein bisschen spazieren gehen.«
    »Es ist schon spät. Die Cafeteria ist geschlossen, Getränke gibt es nur noch an den Automaten.«
    »Ich weiß.«
    »Lassen Sie mich kurz in Dr. Webbs Anweisungen schauen. Es könnte sein, dass Sie die Station nicht verlassen dürfen.« Peony blätterte in meiner Akte und nickte bestätigend. »Tut mir leid, Michael. Vielleicht morgen.«
    »Darf ich mal telefonieren?«, fragte ich, griff nach dem Hörer und wählte die Nummer, die ich auswendig kannte.
    »Es ist wirklich schon spät. Nicht dass Sie ihn wecken …«
    Ich ignorierte sie, denn Gleason meldete sich. »Darf ich spazieren gehen, wenn ich verspreche, mich nicht umzubringen?«
    »Wir sind zivilisierte Menschen, Michael. Wir begrüßen uns, ehe wir eine Bitte äußern.«
    »Hallo, Gleason. Darf ich spazieren gehen?«
    »Muss ich mir Sorgen darüber machen, wohin?«
    »Nein. Alles in Ordnung.«
    »Willst du in den vierten Stock?«
    »Kann sein.«
    »Ruf mich an, wenn du zurück bist. Erzähl mir, wie es war. Und jetzt gib mir bitte Peony.«
    »Danke.« Ich drückte der Schwester das Telefon in die wartende Hand.
    Peony ließ mich durch die Sicherheitstür hinaus, und ich ging zum Aufzug. Ich hatte Gleason die Wahrheit gesagt, ich wusste wirklich noch nicht, ob ich in den vierten Stock wollte. Doch dorthin fuhr ich. Ich weiß nicht, weshalb ich solche Angst hatte, doch sie schloss sich wie eine Schraubzwinge um meine Brust. Ich trat aus dem Aufzug, rührte mich dann aber keinen Schritt weiter. Der Flur war schwach erleuchtet, und vor mir sah ich ein Schild mit der Aufschrift
Neugeborenen-Intensivstation
und einem Pfeil nach links. Ich wandte mich nach links. Die Jalousien in den Fenstern des Säuglingssaals waren herabgelassen, aber ich kehrte nicht um. Es war still, bis auf zwei Frauen in
OP
-Kitteln, die vor dem Schwesternzimmer etwas besprachen. Sie achteten nicht auf mich. Ich lauschte, ob irgendwo ein Baby weinte, hörte aber nichts. Ich dachte, dass sich Lily vielleicht hinter diesen Jalousien aufhielt, neben meiner Tochter saß, aber ich traute mich nicht, das herauszufinden. Mein gebrochenes Herz hämmerte, und ich blieb einfach stehen.
    Ich weiß nicht, wie lange ich da stand, bis eine Ärztin – oder eine Schwester? – in grüner
OP
-Kluft zur Tür herauskam. Sie sah mich an, als wisse sie, wer ich bin, und kam auf mich zu.
    »Möchten Sie hereinkommen, Mr Chandler?«
    Bei ihrer Einladung hatte ich auf einmal einen Kloß in der Kehle und Tränen in den Augen, und ich konnte nichts tun, als den Kopf zu schütteln. Ich trat zurück wie ein Kind,

Weitere Kostenlose Bücher