Tanz auf Glas
Hand griff ich danach. Der Einband zeigte ein lebendiges Bild von drei kleinen Prinzessinnen, zwei blonden Mädchen mit einer kleinen, dunkelhaarigen Lucy zwischen sich. Sie trugen Kronen auf den etwas wirren Locken, und jede einzelne war leicht als eine der Houston-Töchter zu erkennen. Das Schluchzen, das ich bei Lilys Besuch noch hatte zurückhalten können, brach jetzt aus mir hervor. Die unschuldige Freude auf ihren Gesichtern, der Schalk, den Jan in den großen, grünen Augen eingefangen hatte, brachen mir fast das Herz. Ich schlug das Buch auf und fand eine Botschaft auf der Innenseite des Einbands.
Meine liebe Lily,Lucy hat diese Geschichte gefunden, die euer Vater geschrieben hat, und mich gebeten, sie zu illustrieren. Sie wollte dich damit überraschen, und ich habe mir große Mühe gegeben, ihr diesen letzten Gefallen zu tun, aber ich bin vor ihrem Tod nicht ganz damit fertig geworden. Jetzt ist mir klar, dass es nicht für Lucy selbst gedacht war, sondern für dich und Priss. Ein kleiner Trost, den sie euch hinterlassen konnte. Und eine faszinierende Botschaft von eurem Vater, der euch alle so sehr geliebt hat.
Ich blätterte um und vertiefte mich im weichen Licht der Nachttischlampe in die Welt eines Mannes, der seine Töchter vergötterte. Die Worte verschwammen hinter meinen Tränen, als dieser Mann, ganz menschlich, doch als König verkleidet, seine Kinder beschrieb. Immer wieder blätterte ich zu der Seite zurück, die eine schlafende Lucy mit dem Daumen im Mund zeigte. Das Bild von meiner Frau mit ihrem Schutzengel, ihrer Schwester, behütet von ihrem besorgten Vater, fuhr mir direkt ins Herz. Ich fühlte, wie sehr dieser Mann, den ich nie kennengelernt hatte, seine Töchter liebte. Welche Angst er um sie hatte. Dass er alles gegeben hätte, um sie zu schützen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, als Kind so geliebt zu werden.
Ich blätterte die letzte Seite um, auf der ein Engel eine Träne in der Hand hielt, die der König geweint hatte. Es war überraschend, sie auf diesem Blatt Papier zu sehen – sie war nur ein kleines Kind, beschworen durch ein Gebet. Der König flehte sie an, den Prinzessinnen seine Liebe zu bringen:
Ach, Engel, ich wünsche mir, dass du meine Töchter segnest und behütest. Erfülle sie mit meiner Liebe und schütze sie in meiner Abwesenheit. Kannst du das für mich tun?
In der warmen Anstaltsstille meines Krankenzimmers stieg die Stimme des Engels von der Seite auf:
Es wird mir eine Ehre sein.
Ich konnte beinahe hören, wie sie dem König ihr feierliches Versprechen gab. Ihr Name war Abigail.
Es war fast halb fünf Uhr am Morgen, als ich schließlich den Flur entlang zum Patiententelefon ging. Sobald sich Lily meldete, schläfrig, aber erschrocken, sagte ich nur: »Abigail. Sie soll Abigail heißen.«
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33
I ch saß am Fußende meines Bettes und starrte aus dem Fenster, als Lily hereinkam.
»Du bist ja wach«, sagte sie leise und schnappte dann leicht nach Luft. »Mickey, du bist so furchtbar dünn!«
Ich zog meinen Bademantel fester um mich, um zu verbergen, dass ich nichts mehr aß. »Hallo, Lil.«
Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich vor mich. »Wie geht es dir, mein Lieber?«
Tränen traten mir in die Augen, und ich ergriff ihre Hand. Worte gab es nicht, also saßen wir für ein paar stille Minuten da, vereint in unserer Trauer.
Schließlich sagte sie: »Mickey, ich kann damit nicht umgehen.«
»Ich auch nicht, Lil.«
»Ich mache mir Sorgen um dich. Was kann ich tun?«
»Lily, dein Herz ist gebrochen, genau wie meines.«
»Das stimmt, Mic. Aber ich verstecke mich nicht.« Ihre Stimme brach, und ich sah, wie sehr sie mit den Tränen kämpfte. »Wir alle haben Lucy verloren«, fuhr sie heiser fort. »Du kannst nicht den Rest deines Lebens in diesem Zimmer bleiben. Du hast eine Tochter.«
Ich schloss die Augen.
»Mickey, bitte. Komm mit mir zur Kinderstation. Du hast sie noch nicht einmal gesehen.«
»Ich kann nicht.« Ich ließ ihre Hand los und wandte mich wieder dem Fenster zu. Lily versuchte noch eine Weile, mich zu überreden, doch irgendwann gab sie auf und ging. Ich versteckte mich tatsächlich. Das war mir klar, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Gleason hatte mich heute Vormittag gebeten, meine Gefühle zu beschreiben. Ich fand kein anderes Wort dafür als Schwere – bleierner Kummer, der Bewegung unmöglich machte. Lucy war fort, und ohne sie wusste ich nicht mehr, wie man einen Fuß vor den anderen
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