Tanz auf Glas
alte Weihnachtsstrumpf, den sie mir am Nachmittag gezeigt hatte. Sie trat an den Kamin, fuhr mit einer Hand unter dem Sims entlang und tastete nach den Haken, die ihr Vater dort angebracht hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Als sie einen gefunden hatte, hängte Lily den Strumpf daran und trat zurück.
»Genau da gehört er hin«, sagte sie leise. Dann nahm sie einen Umschlag aus der Innentasche ihres Mantels, küsste ihn und steckte ihn in den Strumpf. »Wenn du das ungefähr hundertmal gelesen hast, hätte ich es gern zurück.« Lily kam zu mir herüber. Ich saß immer noch auf dem Sofa, und sie küsste mich auf die Stirn. Neue Tränen standen ihr in den Augen, aber nicht die Seelenqual, die ich in letzter Zeit so oft bei ihr gesehen hatte. Sie beugte sich vor, hob Abby aus ihrer Babyschale und drückte sie einen Moment lang an sich. Dann küsste sie das kleine Köpfchen und legte das Baby sanft in meine Arme.
»Ruf mich jederzeit an, wenn du mich brauchst, Mic. Aber du wirst mich nicht brauchen.«
»Lily, ich …«
»Du schaffst das«, sagte sie, schon an der Tür. Dann war sie fort.
Ich war völlig benommen, als hätte ich lebhaft geträumt und wäre zu plötzlich aufgewacht – verwirrt und unsicher. Ich blickte mich um. Es herrschte dieselbe Stille wie zuvor, aber nun konnte ich mein Herz pochen hören. Der Raum war noch derselbe wie vorher, bis auf die große Tasche und eine leere Babyschale und ein vollkommen entspanntes Baby auf meinem Arm. Abby regte sich ein wenig, weinte aber nicht.
Das war ganz falsch. Das war nicht so geplant.
Dennoch drückte ich sie an mich und schmiegte die Wange an ihren weichen Kopf. Meine Tochter. Meine Abby. Ich dachte an den Mann, den ich gerade oben im Badezimmer gesehen hatte. Ein Wrack, womöglich unrettbar zerstört. Aber ich funktionierte immer noch, oder nicht? Tränen bildeten einen Kloß in meiner Kehle, und ich ließ den Kopf hängen vor Bestürzung über das unmögliche Geschenk, das ich gerade bekommen hatte.
Ich starrte auf das Baby hinab. Ihr Schopf schwarzer Haare, dieser makellose kleine Körper. Lucys kleine Tochter. Ihr Geschenk an mich. Da fiel mir der Brief wieder ein, den Lily in Abbys Strumpf gesteckt hatte, und ich ging zum Kamin hinüber. Als ich die Seiten auseinanderfaltete, schossen mir die Tränen in die Augen, und ich musste mich setzen. Das war Lucys Handschrift.
Liebste Lilianne,
ich liebe Dich. Gott hat mich gesegnet, als er uns beide zu Schwestern machte. Du bist mein Herz, und ich bin Deines, und ich bitte Dich, immer daran zu denken, während du Diesen Brief liest.
Mein Körper verfällt immer schneller, aber ich bin noch da, und mein Verstand ist ungetrübt, wie ein Lüster, der von der Decke eines Abbruchhauses baumelt. Damit will ich sagen: Meine Zeit ist abgelaufen, aber ich bin bei klarem Verstand. Gestern Abend hat Harry – der Gute – uns die Dokumente gebracht, die Dich und Ron zu den Eltern meiner Tochter machen. Und ich bin zu 99 Prozent sicher, dass es so sein sollte.
Aber, liebste Schwester, da ist noch ein Prozent, von dem ich mir so sehr wünsche, dass Du es verstehen wirst. Es besteht die geringe Chance – eine sehr geringe –, dass Mickey es sich doch noch anders überlegen wird. Manchmal ist das bei ihm so. Es ist kein Geheimnis, dass dies mein allergrößter Wunsch wäre, aber die Entscheidung liegt nicht bei mir. Mic behauptet steif und fest, er sei nicht fähig, ein Kind großzuziehen. Aber das ist nur eine Lüge, die ihm eine böse Stimme ins Ohr flüstert. Ich weiß das so genau, weil dieselbe Stimme einmal behauptet hat, er tauge nicht als mein Ehemann. Tja, die Stimme hat sich damals geirrt, und sie irrt sich auch jetzt.
Lily, ich kenne Mickeys Herz. Es ist ein sehr gutes Herz, und meine Tochter ist allein schon damit gesegnet, ihn zum Vater zu haben. Aber mehr noch, sie braucht ihn. Sie braucht ihn so sehr, wie er sie braucht, und all diese Sehnsucht und Bedürftigkeit sind Gottes Geschenke an uns unvollkommene Menschen. Sie geben uns täglich die Chance, für jemand anderen zu leben und besser zu sein, als wir gestern waren. Sieh genau hin. Mickey wird noch beweisen, dass ich recht habe.
Lily, ich weiß, wie empfindlich und geschwollen die Narbe an Deiner Seele noch ist, weil Du Deinen Sohn verloren hast. Und ich weiß, dass das, worum ich Dich bitte, Dir noch einmal so weh tun wird. Aber, meine liebste Schwester, Du musst wissen, dass Du im Leben meiner Tochter immer
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